Ein Frauenleben im Zwanzigsten Jahrhundert
Wer den Vorgängerroman „ Über Carl reden wir morgen“ gelesen hat, der hat mit viel Vorfreude dieses Buch erwartet. Dort erzählte Judith W. Taschler die Geschichte der Familie Brugger, die in einem kleinen Ort im österreichischen Mühlviertel eine Mühle betreibt. Sie spannt dabei den Bogen über drei Generationen hinweg, vom frühen 19. Jahrhundert bis in die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg.
„ Nur nachts ist es hell“ schließt unmittelbar daran an. Doch hier geht es vorrangig um das Leben von Elisabeth Brugger, der einzigen Tochter der letzten Bruggerfamilie. Im Vorgängerroman griff Judith W. Taschler zu verschiedenen Perspektiven und schuf so ein vielstimmiges Bild. Hier wird alles aus der Perspektive von Elisabeth erzählt. Man muss den Vorgänger allerdings nicht gelesen haben, um dieses Buch zu verstehen. Die österreichische Autorin baut alle notwendigen Informationen organisch in die Geschichte ein.
Elisabeth war das jüngste Kind und der Liebling ihrer Eltern. Die Zwillingsbrüder Carl und Eugen waren zwölf Jahre älter. Deren dramatisches Schicksal spielt auch in Elisabeths Leben herein. Gustav, der mittlere der Geschwister, der ihr in ihrer Kindheit am nächsten stand, stirbt in den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs. Elisabeth wird später in dessen Fußstapfen treten und wie er Medizin studieren; eine ungewöhnliche Laufbahn für Frauen zur damaligen Zeit. Doch gegen viele Widerstände, zuerst von den Eltern, dann von Studenten- und Professorenseite aus, setzt sich Elisabeth durch und wird eine anerkannte und beliebte Ärztin. Zunächst aber arbeitet sie während des gesamten Krieges als Krankenschwester an der Front.
Nach Kriegsende heiratet Elisabeth Georg, einen Studienfreund ihres gefallenen Bruders. Georg kommt versehrt aus dem Krieg nach Hause; ihm fehlt der linke Arm. Aber er unterstützt sie in ihrem Wunsch, Medizin zu studieren und bis zum Tod ihres Mannes werden sie gemeinsam eine Arztpraxis in Wien betreiben. Das Paar bekommt zwei Söhne, die glücklicherweise den Zweiten Weltkrieg überleben.
Man spoilert nicht, wenn man das alles verrät, denn das erfährt der Leser schon zu Beginn des Romans. Hier fasst Elisabeth die Eckpunkte ihrer Biographie ganz sachlich zusammen, um sie dann im Verlauf des Buches mit Leben zu füllen.
Das Ganze ist angelegt als langer Monolog, adressiert an die Großnichte Christina. Ihr erzählt sie Anfang der 1970er Jahre ihr Leben, aber auch von den Verhältnissen in ihrer weitverzweigten Familie. Dabei geht sie nicht streng chronologisch vor, sondern springt zwischen den Zeiten hin und her. Oft greift sie vor, dann wieder nimmt sie zurückliegende Erzählfäden auf oder schweift ab. So erschließt sich nach und nach die komplexe Figur der Elisabeth und man kommt ihr erst gegen Ende wirklich nahe.
Ärztin zu sein ist für Elisabeth mehr als ein Job, sie versteht ihn als Berufung. Das Thema Medizin und Medizingeschichte nimmt deshalb auch einen breiten Raum im Roman ein.
Einen noch größeren Einfluss auf Leben und Alltag der Protagonistin haben die historischen Zeitumstände, allen voran die beiden Weltkriege. Judith W. Taschler verknüpft dabei die gut recherchierten geschichtlichen Hintergründe meist sehr gekonnt mit der Romanhandlung. Manches wird aber auch nur aufgelistet, nach dem Motto : Was geschah sonst noch in der Welt? ( Amüsiert zur Kenntnis genommen habe ich, dass die Veröffentlichung des ersten Romans von Franz Werfel „Verdi. Roman der Oper“ im neu gegründeten Zsolnay Verlag Erwähnung findet.)
Lakonisch und gänzlich unsentimental wird uns hier das Leben einer kämpferischen und fortschrittlich denkenden Frau präsentiert, ein Leben mit einigen Höhen und vielen Tiefen.
Der Roman endet mit der Frage, was entscheidend ist für das Leben eines jeden von uns. „ Was macht einen Menschen zu dem, was er ist? Was prägt ihn? Der Kopf und das Temperament. Hör auf dein Temperament….Bis zu einem gewissen Teil prägt einen auch die Familie, aus der man kommt.“ Doch Elisabeth hält nichts davon, die Verantwortung auf andere abzuwälzen. „ Geh davon aus, dass du allein die Verantwortung für dein Handeln trägst, und leb dein Leben danach.“ Diesen klugen Rat erteilt sie ihrer Großnichte. „ Und abgesehen von der Zeit, in die man hineingeboren wird und deren Unwägbarkeiten man sein Leben lang hinterherhechelt, gibt es auch noch Begegnungen mit Menschen, die direkt oder indirekt Einfluss auf uns nehmen.“
Genau all diese Aspekte greift der Roman auf: die eigene Persönlichkeit, das Elternhaus und die Familie, die Zeitumstände und die Menschen, die wichtig werden für das eigene Dasein.
Mit „ Nur nachts ist es hell“ ist Judith W. Taschler wieder ein unterhaltsamer Roman gelungen, der zwar nicht ganz an seinen Vorgänger heranreicht, aber sich zu lesen lohnt.