Eine mosaikartige Reise in die Vergangenheit

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Aki ist eine junge Frau, glücklich verheiratet mit Felix, Kinder haben die beiden auch. Sorgen macht sich Aki um ihre Mutter Keiko, die zunehmend Unterstützung im täglichen Leben braucht, denn sie leidet unter einer fortschreitenden demenziellen Erkrankung. Aki und Keiko unternehmen eine gemeinsame letzte Reise ins japanische Kobe zum Elternhaus Keikos, das jetzt vom Onkel mit seiner Familie bewohnt wird. Aki hofft, „dass die Zeit in ihrem Elternhaus, das Hören und Sprechen ihrer Muttersprache, das Essen, die Straßen, die vertrauten und ihr so zugewandten Menschen etwas in ihrer Mutter öffnen, etwas auffüllen können.“ (vgl. S. 59)

Die Reise wird ein kleines Abenteuer. Keiko wirkt oft überfordert und verloren in der unbekannten Umgebung. Freundlich werden die beiden im Haus des Onkels aufgenommen, wo Aki ihre Spurensuche fortsetzt. Sie möchte ergründen, wer ihre Mutter war, als sie als junge Frau mutig das Heimatland in Richtung Deutschland verließ. War sie schon immer die latent unglückliche Person, die Aki durchs Leben begleitet hat, oder ist das Unglück erst mit ihrem Vater Karl und dessen großbürgerlich reservierter Familie über sie gekommen?

Die Reiseerfahrungen werden durchbrochen von Akis Erinnerungen an Kindheit, Jugend und andere Schlüsselerlebnisse. Schon früh haben sie und ihr Bruder Kenta Verantwortung für die zu Depressionen neigende Mutter übernehmen müssen. „Aber ich habe meine Mutter mein ganzes Leben lang kein einziges Mal richtig weinen sehen. Der Schmerz in ihr ist verknöchert, sie trägt ihn wie ein großes Gewicht mit sich herum.“ (S. 84) Vater Karl hat die Familie schon früh verlassen. Auch er ist ein psychisch belasteter Mensch, der mit seiner Herkunftsfamilie hadert, was schließlich in einen Suizidversuch mündete.

Erzählerin Aki bemüht sich sehr um Aufrichtigkeit. Als Erwachsene reflektiert sie auch ihr eigenes Verhalten kritisch. Sie versucht Zusammenhänge zu erkennen, sieht das kulturelle Spannungsfeld zwischen Japan und Deutschland, in dem sich die Mutter zwangsläufig bewegen musste. Sehr schmerzhaft müssen Ablehnung und mangelnde Akzeptanz von Seiten der Schwiegereltern für sie gewesen sein. Dort gibt es zwar Geld und Geschenke, Liebe und Zuwendung sind aber Mangelware. Schon als Kind resümiert Aki: „Im großen Haus meiner Großeltern muss man laut und lange weinen, bis endlich jemand kommt.“ (S. 19) Als Teenagerin lotet Aki ihre Grenzen mit extremen Verhaltensweisen aus, um die Mutter aus der Reserve zu locken. Was nie gelingt, denn Keiko ist duldsam, leise und wenig durchsetzungsstark.

Das Mutter-Tochter-Verhältnis wird durch widersprüchliche Gefühle aufgezeichnet. Über die Jahre wechseln sich schmerzhafte und zutiefst liebevolle Szenen ab. Dabei spielen die japanischen Reisbällchen Onigiri eine bedeutsame Rolle: Aufwändig in der Zubereitung sind sie Akis Herzensspeise, die sie sich von ihrer Mutter in schwierigen Zeiten wünscht und die ihr Trost spenden. Die Onigiri sind eine Art Liebesgabe, sie haben Symbolcharakter im Roman.

Sehr einfühlsam beschreibt Aki die unterschiedlichen Stationen in der Demenz ihrer Mutter. „Ich frage mich, ob sich aus den Puzzlesteinen, die sie entdeckt, zumindest für einen Moment eine Erinnerung zusammensetzt, bis sie sich etwas anderem zuwendet und ihre Geschichte wieder in alle Himmelsrichtungen auseinanderfliegt.“ (S. 30) Diese Beobachtungen und Gedanken wirken sehr authentisch und berührend. Die Erzählerin hat sich intensiv mit dem Thema Demenz auseinandergesetzt, sie beschreibt es mit Respekt und großer Empathie.

Im Zuge der Geschichte erlangt Aki nicht nur wichtige Erkenntnisse über ihre Mutter, sondern auch über sich selbst. Auch sie und ihr Bruder haben unter den interfamiliären Diskrepanzen und Konflikten gelitten. Für den Leser setzt sich ein facettenreiches Mosaik aus vielen Bildern, Erinnerungen und Gedanken zusammen, in dem man die handelnden Figuren immer besser kennenlernt und Verständnis für sie entwickelt. Aki ist dabei eine Erzählerin, die sachlich berichtet und auch eigene Fehler und Versäumnisse eingesteht. Das Werten überlässt sie dem geneigten Leser.

Mich hat die Reise nach Japan und in die Familiengeschichte Akis sehr fasziniert, weil sich immer neue Perspektiven eröffnen, die der jungen Frau zu einem unbeschwerteren Umgang mit ihren Eltern verhelfen. Sie entwickelt Verständnis für deren kulturelle Unterschiede und individuellen Probleme, kann am Ende sogar versöhnlich auf ihren Vater Karl blicken.

„Onigiri“ ist ein sehr lesenswertes Buch für alle Leser, die sich gerne mit komplizierten Familienkonstellationen auseinandersetzen. Der Roman schärft den Blick auf psychische und demenzielle Erkrankungen, zeigt das transgenerationale Erbe auf, das Erzählerin Aki für sich zu entschlüsseln sucht.

Ein brillant zusammengesetztes und sprachlich sehr ansprechendes Memoir - Leseempfehlung!