Mutterschwund - ich liebe dieses Buch!

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wandablue Avatar

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Kurzmeinung: Wenn sogar ich ein Buch über Demenz gern mag ... !

Präliminarien: Normalerweise sind Romane über Demenz für mich tabu, angstbesetzt? Mag sein. Doch hin und wieder gerät mir doch einer unter und manchmal ist es eine sehr angenehm-positive Überraschung, darüber, was ich zu lesen bekomme. Das vorletzte wertschätzende Werkchen über Demenz stammte von Arnold Geiger und viele Leser kennen es „Der alte König in seinem Exil“. Nun ist „Onigiri“ von Yuko Kuhn wieder ein Roman mit dem Thema Demenz, den ich überaus liebenswert finde.

Inhalt: Die Erzählerin Aki ist Halbjapanerin, ihre nun in die Demenz abgleitende Mama kam als junge Frau nach Deutschland, kämpfte sich mit niedrig bezahlten Jobs durchs Leben und studierte nebenbei die Sprache im Goetheinstitut. Sie ist fleißig und hat eine Gabe, wie Aki, ihre Tochter, erzählt. Diese Gabe – und ich finde es wunderschön, dass sie die Fähigkeit ihre Mutter „Gabe“ nennt- das hat was Märchenhaftes, diese Gabe rettet Mutter Keiko. Vor der Isolation, der Bedeutungslosigkeit, vor Sinnlosigkeit und hilft ihr, einige Wurzeln in den deutschen Boden zu versenken: Die Mama kann wunderschön singen und wird nach einer demütigenden Prüfung ihrer Stimme Mitglied in einem angesehenen Chor mit dem sie in der ganzen Welt Auftritte hat, einmal sogar in der Carnegie Hall. Im Chor lernt sie ihren viel jüngeren künftigen Mann Karl kennen. Leider hat Karl eine schwierige Kernfamilie.
„Das Singen ist eine Gabe meiner Mutter, die Schwere in ihr verschwindet dann für kurze Zeit.“

Der Kommentar und das Leseerlebnis:
„Onigiri“ ist wunderschön geschrieben mit vielen liebevollen Kurzepisoden aus Akis Kindheit, der Vergangenheit der Mutter in Japan, und der Großmutter Yasuko, die eine besondere Person gewesen ist und hundert Jahre alt geworden ist. Aki erinnert sich.
Aki sträubt sich gegen das Verlieren von Erinnerungen, gegen das Verlöschen der Mutteridentität. Sie will ihre Mutter „behalten“, so lange wie möglich und sich nicht der Demenz ergeben. Gleichzeitig will sie der Mutter nahe sein und unternimmt mit ihr eine Reise nach Japan zu den Verwandten, die die Mutter schon ewig nicht mehr gesehen hat und Aki auch nicht.
Ich habe Aki als komplizierte Persönlichkeit wahrgenommen. Sie hat selber eine Menge Probleme, die sie nicht unter die Füße bekommt. Aber obwohl sie sich mit Händen und Füßen gegen den „Mutterschwund“ wehrt und sich teilweise an dem Verhalten der dementen Mutter stößt, weil es auslaugend und anstrengend ist, kümmert sie sich auch liebevoll und zeitlastig um Keiko. Der Roman verschweigt nicht, dass man an seinen Eltern auch ein Stück weit leidet, ist aber trotzdem ein bezaubernder Mutter-Tochter-Roman unter besonderen Vorzeichen.

Fazit: Mutter-Tochter-Roman unter besonderen Vorzeichen.

Ein erstes Lesehighlight 2025.

Kategorie: Anspruchsvolle Literatur
Hanser Berlin 2025