Zwischen den Welten

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Die Autorin Yuko Kuhn, 1983 geboren, hat sich für ihren Debutroman von ihrer eigenen Familiengeschichte inspirieren lassen. Wie ihre Ich-Erzählerin Aki ist sie als Tochter einer japanischen Mutter und eines deutschen Vaters in München aufgewachsen.
Die Großmutter ist im fernen Japan im hohen Alter gestorben , doch es dauert Monate, bis ihre Tochter Keiko in Deutschland davon erfährt. Aber die Nachricht dringt kaum mehr ins Innerste der Tochter, denn diese ist dement. Aki beschließt eine letzte gemeinsame Reise mit ihrer Mutter in deren frühere Heimat. Wohl wissend, dass dieses Unterfangen auch scheitern kann. Aber sie hofft, dass die Rückkehr ins Elternhaus, die Muttersprache, das Essen und die vertraute Umgebung in ihrer Mutter etwas wachrufen.
Dieser neuntägige Besuch bei der japanischen Familie ist die Rahmenhandlung des Romans, immer wieder unterbrochen von Erinnerungen an die Vergangenheit.
Als junge Frau ist Aki nach Deutschland ausgewandert, so sehr hat sie eine zuvor unternommene Europareise beeindruckt. Sie lernt die Sprache, verdient sich ihren Unterhalt mit Aushilfsjobs und begegnet ihrem zukünftigen Mann. Karl ist einige Jahre jünger als sie und stammt aus einer wohlhabenden großbürgerlichen Familie. Doch er hat massive psychische Probleme. Das Paar bekommt zwei Kinder. Aber die Ehe zerbricht und die Geschwister wachsen bei der Mutter auf.
Es ist eine Kindheit zwischen den Welten. Besonders groß ist der Kontrast zwischen der bescheidenen Lebensweise daheim bei der Mutter und dem pompösen Lebensstil der Großeltern, die sich auch nach der Trennung um ihre Enkel kümmern. Sie sind großzügig mit Geschenken, aber die Atmosphäre im Haus ist kühl. Keiko fühlt sich nie richtig akzeptiert und Aki hat deshalb auch stets Vorbehalte gegen ihre Großeltern.
Die Mutter versinkt immer mehr in einer Depression, fühlt sich ständig müde und oftmals außerstande, für ihre Kinder da zu sein. Ausdruck dafür ist eine ständig wiederkehrende Geste: Die Mutter sitzt da, die Hände vor dem Gesicht, so, als wolle sie die Außenwelt ausblenden.
Die einzige Freude scheint sie noch im Singen zu finden. Jahrzehntelang ist Keiko Mitglied in einem Chor.
Ansonsten ist sie nie wirklich angekommen in der neuen Heimat. Aki hat lange ein sehr zwiespältiges Verhältnis zu ihrer Mutter. Als Kind ist ihr das Anderssein peinlich, hätte lieber eine Mutter, die nicht auffällt, sondern so ist, wie die ihrer Freundinnen. Als Erwachsene kümmert sie sich zwar fürsorglich um die zunehmend verwirrter werdende Frau, hat aber nicht immer die Geduld dazu. Bei dieser letzten gemeinsamen Reise lernt Aki ganz neue Seiten an ihrer Mutter kennen. Sie entdeckt, wie sie war als junge Frau, klug und voller Neugierde auf das Leben. Und sie stellt sich die Frage, „… warum meine Mutter geworden ist, wie sie ist, ob ihr Unglück schon in ihr war, bevor sie nach Deutschland gekommen ist.“ Oder war es die gescheiterte Ehe oder der Alltag in der Fremde?
Auffallend ist der fragmentarische Erzählstil, der es dem Lesenden nicht leicht macht. In unendlich vielen kurzen Einzelszenen, die keiner Chronologie entsprechen, erzählt die Autorin ihre Geschichte. Erst nach und nach ergibt sich daraus ein Gesamtbild. Nicht alles wird restlos geklärt, wie im richtigen Leben. Auch dort muss man mit Leerstellen auskommen.
Der Erzählstil ist nüchtern, auch und gerade wenn es um emotional berührende Themen geht.
Anfänglich hatte ich meine Schwierigkeiten mit den Figuren. Nicht immer hatte ich Verständnis für ihr Verhalten, fand sie zu ich- bezogen und ungerecht. Doch im Grunde ist es positiv, dass die Ich-Erzählerin die Situation so ehrlich und ungeschönt darstellt, niemanden schont, auch nicht sich selbst. Denn das Aufwachsen in einer dysfunktionalen Familie ist belastend, ebenso wie der Alltag mit einem erst depressiven, dann dementen Menschen. Das alles wird nachvollziehbar dargestellt.
Die titelgebenden „Onigiri“, Reisbällchen, sind nicht nur das Lieblingsessen von Aki. Sie tauchen an verschiedenen Stellen im Roman auf und stehen sinnbildlich für Liebe und Zuwendung. An ihnen lässt sich das veränderte Verhältnis zwischen Mutter und Tochter ablesen. Ist Aki bei der Geburt ihres ersten Kindes noch enttäuscht, dass ihre Mutter zu müde war, um ihr die gewünschte Leibspeise zuzubereiten, so macht Aki in Japan für ihre Mutter zum ersten Mal selbst Onigiri.
Die Reise nach Japan war für Aki nicht nur die Möglichkeit, eine andere Seite ihrer Mutter zu entdecken, sondern auch eine Reise zu ihren eigenen Wurzeln.
„ Onigiri“ ist ein berührender Roman über eine komplizierte Mutter-Tochter- Beziehung, über das Leben zwischen den Kulturen und nicht zuletzt über Demenz. Eine zum Teil für mich fordernde und schmerzhafte Lektüre.