Brutal statt psychologisch

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wandablue Avatar

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Brutal statt psychologisch.
Pierre Lemaitre hat mich unlängst mit „Drei Tage und ein Leben“, einem Roman, in dem ich eine ausgefeilte Studie eines Charakters bekommen habe, so überzeugt, dass ich gerne zu „Opfer“ gegriffen habe. Wieder hat mich Pierre Lemaitres Stil auf die Seite seines Romans gebracht. Aber es gibt ein schwerwiegendes Aber.

Die ersten vierzig Seiten habe ich so gelesen, wie ich die Stellen eines Films schaue, die ich widerlich finde, die, die man zeigt, um die Sensibilität der Zuschauer herabzumindern, sie empfänglich für künftige Gewaltszenen und Gewalttaten zu machen und langfristig die Gesellschaft zu verunmenschlichen oder auf einen Krieg vorzubereiten, m.a.W. ich habe sie daher fast komplett überblättert. Mitbekommen habe ich dennoch, es hat einen Überfall auf ein Juweliergeschäft gegeben, in einer Einkaufsmall gelegen, und Anne Forrestier geriet den Gangstern in die Quere. Wie und was die Gangster mit ihr anstellten, wurde anschaulich in allen Details beschrieben, etwas davon habe ich mitbekommen, aber meistens habe ich weggeguckt.

Diese Anne Forrestier hat erstaunlicherweise überlebt und ist Augenzeugin. Insoweit ist sie in großer Gefahr, wie Camille Verhoeven, Kleinstkommissar, einen Meter fünfundvierzig groß, weiß. Und er möchte sie beschützen.

Der Kommissar und Anne und der Mörder: Eine Charakterstudie dieser Personen bekommt der Leser leider nicht. Es ist nicht so, dass es der Autor nicht versucht. Doch es ist durch Übertreibungen und der Darstellung des Mörders als reines Monster gründlich in die Hose gegangen.

Natürlich hat sich der Autor einprägsame Merkmale ausgedacht, durch die sein Personal unverwechselbar sein soll. Dabei hat er reichlich übertrieben! Der Kommissar ist ein Zwerg, er hatte eine gemeine Mutter, seine Frau wurde ermordet, er hat ein Waldhaus geerbt, er hat wenige Freunde und er redet in philosophischen Wendungen. Manchmal. Und er ist ein Zeichengenie. Nun, warum nicht? Ich mag Künstler.

Anne Forrestier ist dagegen völlig leblos. Gut, sie hat Angst. Das hätte jeder. Und keine Zähne mehr. Das freut den Zahnarzt.

Der Mörder erzählt seinen Part in Ichform. Wie er nach Anne sucht. Doch das Ganze erscheint aufgesetzt. Dem Menschen „Mörder Sowieso“ kommt man nicht nahe. Nicht im Entferntesten. Seine Denke erscheint nicht im Geringsten menschlich nachvollziehbar, beziehungsweise glaubhaft. Gut, Frankenstein kann man nicht verstehen. Natürlich hat der Mörder einen Grund und diesen herauszufinden, ist Aufgabe des Lesers. Beziehungsweise des Autors. Beziehungsweise des Kommissars. Und alle drei lösen die Aufgabe. Insofern. Der Fall hat keine losen Enden.

Dann gibt es noch eine Staatsanwältin, die Probleme macht. Warum existiert dieser Beruf eigentlich? Sowohl in Kriminalfilmen wie in Kriminalromanen machen die Ausübenden dieses Berufs nur Scherereien. Die Staatsanwältin macht keine Ausnahme. Plus eine Menge anderer Personen, die mich auch sämtlichst nicht begeistern konnten.

Wo ist Lemaitres Fähigkeit geblieben, einen Charakter zu entwickeln, in sein Inneres zu blicken, seine Gewissenskämpfe darzustellen, das Hin und Her der Gedanken, das ganze widersprüchliche Menschsein?

„Opfer“ ist zwar ganz gut geschrieben und ohne Plotfehler bis zum Ende abgewickelt, aber inhaltlich ist der Roman billig. Zumal auch weitere äußerst brutale Szenen zu verzeichnen sind.

Sollen wir durch die schöne Beschäftigung des Lesens abgebrüht und moralisch bizarr werden? Die gesamte Krimiszene geht in diese Richtung. Die Leserschaft will es so. Muss ein Autor diese Schiene bedienen? Oder will es die Autorenschaft? Weil ihr nichts anderes einfällt!

Nicht einmal die Auflösung und das Ende des Romans haben mich vom Hocker gerissen. Klar, gibt es einige unvorhergesehene Wendungen, sonst verdiente das Buch den Namen Thriller nicht. Doch, doch, insofern ist Lemaitre gut.

Fazit: Viel zu brutal. Mit aufgesetzter Handlung. Unglaubwürdig im Ganzen. Bleibt eine schöne Schreibe. Das reicht nicht.

Kategorie: Thriller
Verlag: Tropen, 2018