Philosophischer Thriller, spannend und voller Sarkasmus

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Haben Sie sich schon einmal als Opfer gefühlt? Und schuld waren andere oder das Schicksal? „Was uns zustößt, erzeugen wir selbst“, widerspricht Ihnen entschieden der französische Prix-Goncourt-Presiträger Pierre Lemaitre (67) in seinem bereits 2012 im Original veröffentlichten, erst im September beim Tropen-Verlag erschienenen Thriller „Opfer“. Es ist nach „Ich will dich sterben sehen“ (2011) erst der zweite ins Deutsche übersetzte Roman seiner vierbändigen Reihe um Camille Verhoeven, den vom Schicksal gebeutelten, kleinwüchsigen Chef der Pariser Mordkommission.
Vor einem Juweliergeschäft wird Anne Forestier, die Freundin des Kommissars, als Zeugin eines Raubüberfalls brutal misshandelt und wäre, nur durch Zufälle verhindert, fast erschossen worden. Verhoeven ist bei Durchsicht der Video-Überwachungsbänder überzeugt, den Haupttäter zu kennen, denn der Ablauf dieses Überfalls und die angewandte Brutalität des einen Gangsters erinnern ihn an eine Überfallserie im Januar desselben Jahres. Da Anne die Täter identifizieren könnte, will der Haupttäter sie als Zeugin ausschalten. Doch Camille Verhoeven setzt alles dran, um seine Geliebte zu schützen, notfalls unter Aufopferung seiner Polizeikarriere.
Doch bringt er ein Opfer? „Opfer ist ein lächerliches Wort“, stellt Verhoeven fest. Einem nahestehenden Menschen zu helfen, sei kein Opfer. „In diesen Zeiten des Egoismus ist das sogar ein Luxus.“ Verhoeven ist ein bemerkenswerter Polizist. Trotz seiner Körpergröße von nur 1,45 Metern, deretwegen er schon einige Schmähungen im Leben erleiden musste, konnte er bei der Polizei Karriere machen. Seiner Kleinwüchsigkeit bewusst, wundert es ihn umso mehr, dass Frauen ihn zu lieben vermögen. Vier Jahre lang hat er um seine Ehefrau Irene getrauert, die durch die Indiskretion eines jungen Mitarbeiters Opfer eines Serienmörders wurde. Kürzlich hatte Verhoeven dann bei Beobachtung einer Rauferei in einer Bar, eine ihm unbekannte Frau – Anne Forestier – beschützt. Schnell kamen sich beide näher. Seit dem Raubüberfall sorgt sich nun Verhoeven, das Schicksal könne ihm auch diese zweite Chance nehmen. Er beginnt zu kämpfen.
„Opfer“ ist ein philosophischer Thriller mit Tiefgang. Doch äußerst geschickt verpackt Lemaitre seine Überlegungen in einer überaus spannenden, teilweise brutalen Handlung, weshalb Thriller-Freunde auf ihre Kosten kommen. Die Spannung wird dadurch gesteigert, dass man als Leser einerseits Camille Verhoeven bei seinem verzweifelten Kampf zum Schutz seiner Freundin und um die Lösung des Falles begleitet, andererseits miterleben muss, wie der brutale Gangster als Ich-Erzähler zeitgleich vorgeht, wir dadurch dessen Geschichte erfahren. Auch er fühlt sich als Opfer – als um die Beute betrogenes Opfer jener Überfallserie im Januar. Lemaitres Schreibstil strotzt zudem von beklemmendem Sarkasmus, wenn er zum Beispiel in einer Szene die brutalen Verstümmelungen des Ich-Erzählers an einem seiner Opfer sehr nüchtern, aus Sicht des Täters fast amüsiert, als ganz banale Geschehnisse schildert.
Im Thriller geht es nicht, wie man anfangs vermuten könnte, um Anne Forestier als Opfer und Zeugin des Raubüberfalls. Sie selbst opfert sich, wie sich erst später herausstellt, für ihren von Gangstern erpressten Bruder. Ein von Verhoeven gejagter Gangster opfert sich für Freundin und Tochter. Verhoeven opfert sich für seine Geliebte. Doch er fühlt sich keineswegs als Opfer. „Was uns zustößt, erzeugen wir selbst.“ „Opfer“ ist ein ausgezeichneter Thriller – spannend in der Handlung, hervorragend geschrieben und in seiner philosophischen Aussage bemerkenswert.