Das Buch als Langstreckenläufer

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern
emma winter Avatar

Von

Die wenigsten von uns haben sich in der Schule mit Feuereifer in die griechische und römische Antike verbissen, oder? Vielleicht hätten wir Irene Vallejo gebraucht, um uns für diese Zeit zu begeistern, denn begeistert ist sie von dieser Epoche, das merkt man diesem Buch an.

Durch die Literatur wird uns eine andere Perspektive auf die Welt (nicht nur der Antike) aufgezeigt. Das Buch ist ein Ritt durch alle Facetten, die mit Büchern in Berührung kommen, zunächst in der griechischen Kultur (Teil 1), dann in der römischen (Teil2), die auf der griechischen aufbaut bzw. sich viel von dieser abgeschaut hat.

Da geht es um die Bücherjäger, die auf der Suche nach jedem Buch der bekannten Welt sind, um die große Bibliothek von Alexandria zu bestücken. Die Schwierigkeiten des Übersetzens, zumal, wenn eine Sprache bereits ausgestorben ist. Der Übergang vom Papyrus zum Pergament und vom überwiegend lauten Lesen zum vereinzelten, stillen Lesen. Vallejo berichtet über den Beginn des Alphabetes und welchen Umbruch es bracht, dass Dinge nicht mehr nur durch das Gedächtnis bewahrt werden mussten, sondern quasi extern gelagert und wieder abgerufen werden konnten. Es geht um Bibliotheken und ihre Bibliothekare und Bibliothekarinnen, um die Systeme der Lagerung und das Katalogisieren von Büchern, das Vernichten von Büchern, um das Theater, Buchhändler und schließlich den Begriff "literarischer Kanon". Als mit dem Untergang des römischen Reiches auch dessen schriftliche Hinterlassenschaften schrumpften und zerstört wurden, überlebte die Antike quasi nur durch Bücher, die in Klöstern vorhanden waren und dort wieder von Hand kopiert wurden. Erst mit dem Aufkommen der abendländischen Universitäten setzt der Durst nach den "Klassikern" wieder ein und erneut sind Bücherjäger unterwegs. Damit schließt sich der Kreis.

Was das Buch so interessant macht, sind die unglaublich zahlreichen Nebeninformationen und Querverweise auf andere Werke, besonders auf moderne Literatur und vor allem auch Kinofilme! Die Autorin hat ein unglaublich breit gestreutes Wissen und wenn sie von den antiken Universalgelehrten schreibt, meint man, in ihr selbst eine solche vor sich zu haben.

Die vielen kleinen Aha-Momente machen Spaß, einiges wußte ich bereits, hatte aber auch vieles wieder vergessen oder schlicht noch nie gelesen. So macht Vallejo nebenbei z.B. auf besondere Berufsgruppen aufmerksam, die "Filmerklärer" (S. 168f.) der Stummfilmära oder die reitenden Bibliothekarinnen von Kentucky (S. 657f.). Gefreut habe ich mich, einen meiner Lieblingsfilme zitiert zu finden: Ist das Leben nicht schön? (S. 251) Was könnte dieser Weihnachtsfilm mit dem Thema Buch zu tun haben? Es wird an dieser Stelle nicht verraten.

Insgesamt sind die 663 Seiten Text eine unglaublich interessante und spannende Lektüre. Ich habe Seite für Seite gelesen und nicht nur quer. Dabei gibt es aber auch ein paar Längen, denn unweigerlich kommt es zu Wiederholungen, wenn immer wieder mit einem (weiteren) Themenaspekt von vorne begonnen wird. Die Autorin tritt übrigens häufig aus dem Text hervor und bringt eigene Erlebnisse ein, das ist allemal unterhaltsam und lesenswert, streckt das Werk aber auch.

Wer sich lediglich nüchternes Fachwissen aneignen möchte, dem kann ich das Buch nicht empfehlen. Dies ist ein Werk, das unterhält und Freude an Büchern und ihrer Welt, an antiken Autor:innen und antiker Geschichte auf jeder Seite vermittelt. Ein wahrer Schatz für Schmökerfans. Was ich mir gewünscht hätte, wären Abbildungen gewesen, die hätten den über 600 Seiten (kleingedruckter Schrift) ganz gut getan, um die Augen gelegentlich etwas zu entlasten. Abgerundet wird das Buch durch ein umfangreiches Quellen- und Literaturverzeichnis sowie ein Personenregister.

Noch kurz zur Optik: Der Schutzumschlag ist großartig gelungen, schlicht und mit der Goldprägung doch wertvoll. Das Buch hat sich über Jahrtausende behauptet und wird es auch weiterhin tun, davon ist die Autorin überzeugt - ein echter Langstreckenläufer.