Von dem Wunder der Verbreitung des Alphabets

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wandablue Avatar

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Kurzmeinung: Pflichtlektüre für intellektuelle Bibliophile.


Es ist nicht selbstverständlich, dass die Allgemeinheit liest. Und doch ist unsere Gesellschaft darauf aufgebaut, dass diese seltsamen Zeichen, dieses Alphabet, das zusammengesetzt Wörter bildet, dann Texte, von allen verstanden wird. Die wenigen Menschen, die, aus den verschiedensten Gründen, nicht lesen können, sind bei uns benachteiligt. Aber es war nicht immer so.

Irene Vallejo erzählt frisch und manchmal ein wenig frei und frech von der Entstehung des Buches in der Welt. Dabei fängt sie naturgemäß am Anfang an, im Orient, bei den Ägyptern, bei den Höhlenmalern sogar, die die ersten Zeichen in Wände ritzten. Vallejos Schwerpunkt liegt allerdings auf der Antike. Die griechische Kultur, sozusagen globalisiert durch Alexander den Großen, war eine Hochkultur. Sie sammelte Bücher. Bibliotheken entstanden und arme Gelehrte. Als die Römer die Welt eroberten, kopierten und integrierten sie das alte Kulturgut Griechenlands und bauten darauf auf.

Wer also „Papyrus“ von Irene Vallejo liest, bekommt einen Schnellkurs in griechischer und römischer Geschichte, immer auf die Literatur bezogen, wenngleich sich die Autorin auch manchen Ausflug in die Moderne erlaubt, zu der sie immer wieder einmal Parallelen zieht.

Sie schreibt sehr fluffig, lässt zugunsten von zufälligen Assoziationen oft die Chronologie der Ereignisse links liegen, um aber immer wieder auf ihren Ausgangspunkt zurückzukommen. Das ist unterhaltsam zu lesen; gleichzeitig lernt man eine Menge. Wer hätte gedacht, dass Ovid ein alter Lustmolch war und nach Rumänien verbannt wurde wegen seiner unzüchtigen Schriften oder Platon für eine vollumfängliche Zensur von Dichtern und Denkern eintrat, obwohl er selber einer war?

Apropos Zensur. Die Autorin vertritt die Auffassung, dass Selbstzensur die schlimmste, weil wirksamste Zensur überhaupt wäre … um so unverständlicher, dass sich Übersetzer und/oder Lektoren von Werken aus dem Fremdsprachigen das Recht herausnehmen, diese Werke übersetzerisch zu ideologisieren. Was auch hier passiert ist, was ich stark vermute! Wer einen fremdsprachigen, nicht gegenderten Text ins Deutsche gendert, übersetzt nicht nur, sondern verfälscht regelrecht. Für diese Unsitte geht ein Stern flöten.

Die Meinung mancher Rezensenten, das Buch sei "zu schwer", kann ich nicht teilen. Es ist nicht schwer, sondern anspruchsvoll. Sachbücher sind immer anspruchsvoll, das liegt in der Natur der Sache.
Die Meinung der Rezensenten, die dagegen schreiben, das Buch sei ein Leichtgewicht, ist zu entgegnen: natürlich ist es für den Laien gedacht, es ist gerade kein Buch für den trockenen Gelehrten, der sich etwas Neues zu seinem speziellen Sachgebiet erhofft. Was diese Leute suchen, steht in Fachjournalen.

Fazit: Jedenfalls ist die Tatsache, dass die breite Allgemeinheit lesen kann und lesen darf und vollumfänglich Bücher und Bibliotheken dafür zur Verfügung hat, ein Wunder und es ist Irene Vallejo zu danken, dass sie uns daran erinnert, wo wir herkommen, von einer Herrschaft der Reichen, die alle anderen ausgeschlossen hat.

Kategorie: Sachbuch
Verlag: Diogenes, 2022