Große Empfehlung!

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fraedherike Avatar

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„Am Tag, als meine Mutter starb, fiel ich auseinander. Übrig blieb eine Buchstabenfolge, die einmal mein Name gewesen war. B-i-l-l-i-e.“ (S. 7)

In der Hochhaussiedlung am Stadtrand, wo die vierzehnjährige Billie mit ihrer Mutter wohnt, hatten die Menschen das Wort „gewinnen“ aus ihrem Wortschatz gestrichen. Das Geld war knapp, besonders am Monatsende, doch sie hatten einander; das war es, was zählte. Verreisen konnten sie damit nicht, doch wenn sie abends gemeinsam auf den Liegestühlen im Laubengang lagen, träumten sie sich an den Strand, nach Florida. Weit weg, Sand knibbelt zwischen den Zehen – bis das Knistern der Chipstüte sie zurück in die Gegenwart holt. Oder Luna, ihre Nachbarin, die nachts wieder einmal Kuchen backt. Es könnte alles so schön sein, denn: die Sommerferien stehen vor der Tür und sie würden mit dem klapprigen Nissan verreisen, ans Meer, ihren Traum Wirklichkeit werden lassen. Aber ein Anruf verändert alles. Billies Großmutter aus Ungarn würde nach Deutschland kommen und bei ihnen wohnen. All ihre Pläne, sie bleiben Spielfilmgedanken; stattdessen müssen sie mit ihrer neuen Wohnsituation umgehen lernen, ein- und ausatmen.

„Mein Leben war in zwei Teile zerfallen. In ein Davor und in ein Danach. Davor war meine Mutter die Antwort, danach war sie die Frage.“ (S. 138)

Ein Streit, ein Knall. Stille, wo noch ein paar Sekunden zuvor ein Herz in sanften Schlägen so viel Wärme verströmt hat. Blut an ihrem Bein, auf ihrem gelben Kleid; leise Tränen. Billies Mutter ist tot, in ihr eine betäubende Leere, als fehle ein Teil von ihr. Und so viele Fragen, deren Antworten sie niemals bekommen würde. Antworten, die sie braucht, um ihre eigene Geschichte zu verstehen, um sich zu verstehen. Kurzerhand fährt sie mit dem alten Nissan und all den Dingen, die ihr von ihrer Mutter geblieben sind, los, um ihren unbekannten Vater zu finden.

„Manchmal war ich nicht einmal mehr sicher, ob ich überhaupt noch da war. Dann schaltete ich das Licht ein und betrachtete mich minutenlang in dem Handspiegel, den ich auf meinen Nachttisch gelegt hatte.“ (S. 198)

„Paradise Garden“ – das bedeutet: sich wegträumen, mit dem kalt-süßen Geschmack von Vanilleeis und Erdbeeren auf der Zunge die Gegenwart vergessen, in ein anderes, ein sorgenfreies Leben eintauchen, in dem die Tür des Nissans nicht bei jeder Kurve festgehalten werden muss, in dem ihre Mutter nicht zwei Jobs hat, um sie über die Runden zu bringen. In dem sie eine ganze Familie sind. Und ihre Mutter noch am Leben.
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Einfühlsam und sanft erzählt Elena Fischer in ihrem Debütroman „Paradise Garden“ vom Zauber der kleinen Dinge, des Alltäglichen und der ihnen entgegengebrachten Wertschätzung, von Flucht und Freiheit, von der Suche nach der eigenen Herkunft, der Familie, und davon, mutig zu sein, für die Welt und ihre Möglichkeiten, und vom Tod; von Trauer und dem Prozess des Abschieds. Aus der Sicht der vierzehnjährigen Billie beschreibt sie ihr Leben mit ihrer aus Ungarn stammenden Mutter in der Hochhaussiedlung am Stadtrand, die herzlich-kuriose Gemeinschaft mit ihren Nachbarn Luna und Ahmed, die sowas wie eine Familie für sie sind, und den Übertritt in eine „andere“, eine scheinbar heile und sorgenfreie Welt, wenn sie bei ihrer Freundin Lea zu Hause ist. Anhand ihrer Freundschaft wird die Diskrepanz zwischen ihren unterschiedlichen sozialen Schichten deutlich, und die Haltung und Abschätzigkeit der Begünstigten, die damit einhergeht. Doch Mutter und Tochter sind glücklich – auch ohne viel Geld, ohne Swimmingpool und Esszimmer, denn sie haben einander und ihre Fantasie, den Eisbecher am Anfang des Monats und den Dreier im Schwimmbad. Nur eine Frage hat Billie, die ihr noch mehr auf dem Herzen brennt, als ihre Großmutter bei ihnen einzieht. Und sie im Danach in Flammen aufgehen lässt.
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Mit dem Tod ihrer Mutter tritt Billie in eine neue Phase ihres Lebens ein. Plötzlich ist sie auf sich alleingestellt, muss erwachsen sein, erwachsen handeln und denken – und das mit vierzehn Jahren. Jetzt mehr denn je findet sie Zuflucht im Schreiben, war es schon immer ihr Traum, Schriftstellerin zu werden. Alles, was sie für wichtig erachtet, die Puzzleteile ihrer Herkunft, ihrer Geschichte zusammenzufügen, schreibt sie in ein Notizbuch. Um nicht zu vergessen, um ihre Mutter lebendig zu halten.
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Ich habe mich gefühlt wie in einer Schneekugel mit Zuckerperlen, unendlich geborgen und gewärmt von dieser leichten, feinen Sprache, ihrer Lebendigkeit und Soghaftigkeit, habe jede einzelne Figur auf ihre Art ins Herz geschlossen, ganz besonders jedoch Billies Mutter. Von ihr hat Billie ihren Mut und ihre Beherztheit, Fantasie und den Schneid, sich durchzuboxen, so widrig die Umstände auch sind. Vordergründig eine Coming-of-Age-Geschichte, entwickelt sich "Paradise Garden" im zweiten Teil weiter, bricht Billie aus den Grenzen der Strandrandsiedlung aus. Und ab hier verlor die Geschichte für mich ein wenig ihres Flows, wirkte es doch nun stellenweise konstruiert und, naja, nach Wishful Thinking, aber ich meine, nach alldem, was sie durchgemacht hat, diese kleine Heldin auf ihrer Reise mit ihrem letzten Hab und Gut, den letzten Dingen ihrer Mutter, wünscht man sich doch auch genau das, oder? Dass am Ende des Weges... Lest selbst, los! Denn dieses Buch ist etwas ganz Besonderes, versprochen. Große Empfehlung!