Die Verschwundenen in ihrer geheimen Dimension

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Leerer Stern
buecherfan.wit Avatar

Von

"Perla" ist Carolina de Robertis zweiter Roman nach ihrem vielfach ausgezeichneten Weltbestseller "Die unsichtbaren Stimmen."  Es geht um die junge Perla, 22, Psychologiestudentin im vierten Studienjahr, die sich gerade während einer Uruguay-Reise nach vierjähriger Beziehung von ihrem Freund Gabriel getrennt hat und psychisch noch etwas aus dem Gleichgewicht ist. Da passiert etwas, das ihr Leben für immer verändert. Bei der Rückkehr findet sie in ihrem Wohnzimmer einen tropfnassen nackten Mann vor, der einen üblen Geruch nach brackigem Wasser, metallischem Fisch und faulen Äpfeln verströmt. Sie erfährt, dass er eines nachts von Militärs misshandelt und entführt worden ist. Danach ist er verschwunden.

Damit ist offensichtlich, worum es in diesem Roman geht: die schlimmen Jahre der Militärdiktatur (1976-1983) in Argentinien, als Tausende ermordet wurden, bis zu 30.000 für immer verschwanden. Wieso der unbekannte Untote ausgerechnet den Weg in Perlas Wohnzimmer gefunden hat, wird noch nicht erklärt, aber der Leser kann es ahnen. Perlas Vater war Marineoffizier, dem die Rückkehr zur Demokratie gar nicht gefallen hat, wie sich Perla in einer der Rückblenden erinnert. Er war anscheinend in die Verbrechen der Junta verwickelt. Sowieso hatte ihr die Mutter Lügen erzählt und die Existenz der Verschwundenen geleugnet. Beide Eltern hatten ihr Informationen vorenthalten, und über die verschwundene Tante Mónica wurde Stillschweigen bewahrt. Perla hatte als 12jährige den Vater gegen sich aufgebracht, als sie in einem Schulaufsatz über die geheime Dimension der Verschwundenen geschrieben hatte, die darauf warteten, den Zurückgebliebenen von ihrem Schicksal berichten zu können.

Die Autorin schreibt gegen das Vergessen und Verschweigen an - das Schicksal der Verschwundenen ist nie aufgeklärt, und die wenigsten Mörder von damals sind bestraft worden - und setzt auf die Macht der Erinnerung. Sie tut dies auf interessante Weise, indem sie eine Familiengeschichte vor dem zeitgeschichtlichen Hintergrund erzählt. Erzähltechnisch ist das sehr geschickt gelöst, denn Perla berichtet als Ich-Erzählerin in zahlreichen Rückblenden aus ihrer Vergangenheit und erzählt vom Beginn ihres neuen Lebens, das mit dem Auftauchen des tropfnassen Zombies einsetzt. Mit den Passagen aus Perlas Sicht wechseln die Erinnerungen des Mannes ab, die ein auktorialer Erzähler vermittelt. Dadurch hat der Leser auch Zugang zu den Gedanken und Gefühlen des männlichen Protagonisten und erfährt, was ihm widerfahren ist.

Die Leseprobe liest sich sehr gut und ist auch sprachlich sehr anspruchsvoll. Den Leser erwartet eine interessante Kombination aus privatem Schicksal und Geschichtsstunde. Ich bin sehr gespannt auf diesen Roman.