Eindringlich!

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Von

PERLEN
Siân Hughes

TW: Selbstverletzung, Magersucht

Claire Hughes erzählt in ihrem Roman die Geschichte von Marianne, die im Alter von acht Jahren einen tiefen Verlust erleidet: Ihre Mutter verlässt eines Morgens barfuß das Haus – und kehrt nie zurück. Sie hinterlässt ihren Ehemann Edward, die kleine Tochter Marianne und den gerade erst geborenen Sohn Joe. Fußspuren führen zum nahegelegenen Fluss, doch die Spurensicherung erfolgt nachlässig, die Fotos sind unscharf, und schon am nächsten Tag haben Rinder das Gelände zertrampelt. Die Leiche wird nie gefunden. Ob es sich um einen Suizid handelte oder um ein gewolltes Verschwinden, bleibt für immer ungewiss.
Fortan ist der Vater allein mit den Kindern. Edward ist ein liebevoller, sanfter Mann – doch gezwungen, sich vor allem um das Baby zu kümmern, gerät Marianne zunehmend aus dem Blick. Sie bleibt sich selbst überlassen, schwänzt die Schule, zieht sich zurück und klammert sich an Erinnerungsstücke, Gedichte und Dinge, die sie mit ihrer Mutter verbindet. Als die Familie in ein neues Haus zieht, empfindet Marianne dies als endgültigen Bruch mit der Vergangenheit – als ob auch das letzte Band zur Mutter gekappt wurde.

„Unsere Welt beschränkte sich jetzt auf die Grenzen des neuen Hauses, und ich verkroch mich unter die Bettdecke in meinem falsch riechenden Zimmer, versteckte die falsche Aussicht vor dem Fenster hinter den Vorhängen und bemühte mich, das Essen und das Schlafen und die Gesundheit neu zu lernen. Von allem, was ich nach dem Verschwinden meiner Mutter neu zu lernen hatte, waren diese Dinge sicherlich die schwierigsten.“ (S. 143)

Jahre später, Marianne ist inzwischen 30 und selbst Mutter geworden, holen sie die Erinnerungen wieder ein. Es wird deutlich: Das Trauma aus ihrer Kindheit ist nie verheilt, sondern lebt in ihr weiter – oft unsichtbar, aber stets wirksam.

„Man sollte meinen, ich wäre längst an all das gewöhnt, an die Erinnerungen, die auftauchen, als würde ich immer wieder an derselben Stelle graben, immer wieder die gleichen Tonscherben herauspicken und überall nach Hinweisen suchen." (S. 252)

Claire Hughes ist ein eindringlicher Roman gelungen, der in leiser, poetischer Sprache von Verlust, Erinnerungen und dem langen Schatten ungelöster Trauer erzählt. Die Figuren sind vielschichtig gezeichnet, und die innere Not der Protagonistin wird glaubwürdig und berührend vermittelt.
Ein Buch, das leise daherkommt – aber lange nachhallt.
4/5