Der Funke wollte beim Lesen nicht überspringen

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Mit dem Thriller „Poppy“ von Kristine Getz erhält man einen Einblick in eine ungewöhnliche und irritierende Parallelwelt: In die Welt einer Influencerin. Die Osloer Bloggerin Lotte Wiig postet stets aktuelle Neuigkeiten aus ihrem Privatleben. Dabei steht vor allem ihre zweijährige Tochter Poppy im Fokus, der zahlreiche Follower jeden Tag folgen. Bis Poppy eines Tages verschwindet und Menschen in ganz Norwegen daran Anteil nehmen.
Das Setting dieses Thrillers ist also durchaus aktuell und zudem gesellschaftspolitisch relevant. Man wird an vielen Stellen zum Nachdenken über die negativen Seiten der sozialen Medien angeregt. Insbesondere die fiktiven Chatverläufe in einem Pädophilen-Forum im Darknet waren beim Lesen verstörend. Und auch die Kommentare der Follower von Lotte Wiig zu dem Vorfall mit ihrer Tochter zeugen davon, dass man als Influencerin nicht vor den Urteilen wildfremder Menschen geschützt ist. Den Entführungsfall in diesen Kontext einzubetten, empfand ich als Stärke des Thrillers. Und auch die Ermittlerin Emer Murphy hat Potential. Die Darstellung ihrer psychischen Erkrankung fand ich reizvoll und interessant. Sie ist ein Charakter, der dem Bild einer positiven Heldin widerspricht. Sie hat mit eigenen seelischen Abgründen und ihrer Krankheit zu kämpfen, während sie ermittelt. Das hat mir sehr gut gefallen, auch wenn die Umsetzung dieser Idee ausgereifter, realistischer und differenzierter hätte sein können.
Allerdings gibt es auch einiges zu bemängeln. In erster Linie hat mir die Erzählweise nicht zugesagt. Ich empfand sie zu sprunghaft und verworren bei der Lektüre. Auch die Ermittlungsarbeit finde ich sehr weitschweifig und ohne viel „Zugkraft“ angelegt. Das Entführungsopfer steht mir zu wenig im Mittelpunkt der Ereignisse. Stattdessen ist die Beschreibung der Familie um Poppy viel zu ausführlich. Die Handlung verliert sich in vielen Details und Nebensächlichkeiten. Die Anzahl der Figuren fand ich fordernd, der Personenkreis hätte nach meinem Empfinden stärker auf einige zentrale Charaktere beschränkt werden sollen. Ich habe bei den vielen Namen hin und wieder den Überblick verloren. Alle diese Faktoren wirken sich negativ auf die Spannung aus. Diese ist kaum vorhanden. Auch das Potential der psychischen Erkrankung der Ermittlerin wird erzählerisch zu wenig genutzt. Da wäre mehr drin gewesen! Nicht zuletzt hat sich die Story in eine Richtung entwickelt, die ich so nicht vorhergesehen habe, und die mir nicht zugesagt hat, aber das kann natürlich bei anderen Leser:innen ganz anders sein. Auch empfand ich einiges als zu konstruiert, z.B. das Verhalten des Vaters Jens.

Fazit: Das Setting des Thrillers ist vielversprechend, die Kritik an den sozialen Medien kommt gut zum Ausdruck. Auch die Gestaltung der Ermittlerin hat Potential, auch wenn es in meinen Augen nicht ausgeschöpft wird. Leider ist der Funke beim Lesen aber nicht auf mich übergesprungen, ich fand die Erzählweise zu sprunghaft und zu verworren. Der Fokus lag mir zu wenig auf dem entführten Kind. Eine Sogwirkung wollte leider gar nicht aufkommen. Von mir keine Leseempfehlung und zwei Sterne.