Eine gewöhnungsbedürftige Kombination

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romy_abroad Avatar

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Gabriel ist Brasilianer und lebt seit einer Weile in Hamburg. Dort arbeitet er bei einer IT-Firma, seine Schwester und ihr Sohn leben ebenfalls in Deutschland. Vor Kurzem hat Gabriel sich von seiner Freundin getrennt, und tatsächlich auch schon jemand Neues kennengelernt. Doch plötzlich verschwindet Gabriel, und niemand weiß, was mit ihm passiert ist. Weder seine Mutter in Rio, seine Schwester in Hamburg, noch seine Ex oder seine neue Bekanntschaft. Auch bei der Arbeit fällt sein Fehlen auf, er gilt als zuverlässiger und verantwortungsbewusster Mitarbeiter. Seine Schwester setzt alle Hebel in Bewegung um ihn zu finden, denn ihr ist klar, dass ihm etwas Schreckliches zugestoßen sein muss. Doch die deutsche Polizei bleibt zunächst untätig: Ein erwachsener Mensch darf jederzeit alles hinter sich lassen, auch seine Familie und Freunde, darf Kontakte abbrechen und Nachrichten ignorieren, das ist sein gutes Recht. Ohne Hinweis auf ein Verbrechen können sie nicht tätig werden. Für Gabriels Umfeld beginnt eine schwere Zeit der Ungewissheit. Bis seine Leiche schließlich in der Wohnung eines Fremden entdeckt wird, durchleben Gabriels Angehörige vier Monate voller Hoffnung und Sorge, voller zermürbender Fragen.
Der Autor Alexander Rupflin erzählt von dieser Zeit, von den Emotionen und vom Engagement Gabriels Familie, die nichts unversucht lassen, um ihn wieder zu finden. Doch Rupflin beschreibt nicht nur seine Interviews mit den Angehörigen dieses Mordopfers, sondern er beschreibt auch die Tat selbst, er rekonstruiert sie aus Gerichtsakten und Vernehmungsprotokollen, und schmückt aus was unklar ist. Er macht daraus einen Roman, in dem der mutmaßliche Mörder Fabio die Hauptrolle spielt. Dieser für den Bereich True Crime ungewöhlniche Kunstgriff hat mich anfangs neugierig gemacht, doch so richtig warm geworden bin ich damit nicht. Ich fand es zwar spannend, mehr über diesen echten Kriminalfall zu erfahren, doch das Ausschmücken und Ergänzen der Geschehnisse hat mir nicht zugesagt. Man hat als Leser*in keine Möglichkeit, zwischen Fiktion und Realität zu unterscheiden, sondern bekommt Tatsachen und Erfindungen des Autors in einer bunten Melange serviert. Auch der Tathergang selbst und der vorausgegangene sexuelle Missbrauch werden ausdrücklich geschildert. Hier hätte ich eine Content Warnung als angemessen empfunden.
Insgesamt fand ich die Aufarbeitung des Falls zwar spannend, hätte mir aber eine andere Umsetzung gewünscht. Auch andere Schwerpunkte hätten mir besser gefallen: Ein Großteil des Textes beschreibt das Leben des Täters, während dem Opfer und seinen Angehörigen deutlich weniger Raum zukommt.
Alles in allem hat "Protokoll eines Verschwindes" also nicht ganz meinen Geschmack getroffen.