Spannend und düster

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michelle.liest Avatar

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Alexander Rupflin erzählt in Protokoll eines Verschwindens den Fall von Gabriel, der aus Rio nach Deutschland kommt, seiner Schwester Isabella zuliebe; zunächst scheint alles gut zu laufen, doch dann verschwindet er spurlos. Parallel wird das Leben des Pflegers Fabio beleuchtet, der mit einer schrecklichen Entdeckung konfrontiert ist. Der Roman basiert auf einem wahren Kriminalfall und verbindet persönliche Schicksale mit investigativer Recherche.
Rupflin schreibt sehr eindringlich. Sein Stil ist sachlich, aber nicht kalt; er versteht es, Atmosphäre und Spannung aufzubauen, ohne in Übertreibungen zu verfallen. Die Szenen wirken plastisch, und man fühlt die Ohnmacht der Angehörigen, die Verflochtenheit von Wahrnehmung, Erinnerung und Wahrheit.
Da der Autor als Kriminalreporter tätig ist, merkt man, dass er sich intensiv mit Fakten auseinandergesetzt hat. Er verleiht sowohl den Hinterbliebenen als auch dem mutmaßlichen Täter Raum – was das Buch komplexer und differenzierter macht als viele typische True-Crime-Darstellungen. Die Brüche, die durch kulturelle Unterschiede, durch Sprachlosigkeit und durch Schuldfragen entstehen, sind spürbar. Wer empfindlich auf Darstellungen von Gewalt, Leichen oder bestimmten Details ist, sollte vorsichtig sein. Einige Passagen sind ziemlich brutal, und der Schockfaktor ist hoch. Das macht das Lesen nicht immer angenehm. Weil Rupflin viele Perspektiven und Zeitebenen nutzt, gibt es Momente, in denen der Fluss verlangsamt wird – mit ausführlicher Dokumentation, Rückblenden, Interviews oder Erinnerungssplittern. Das ist einerseits informativ, andererseits hat es mir manchmal das Tempo erschwert. Wie bei vielen Fällen, die auf realen Ereignissen beruhen, sind nicht alle Geheimnisse geklärt. Manche Erklärungen bleiben vage, und das Ende bietet keine eindeutige Lösung in allen Belangen. Wer ein ganz geschlossenes Ende erwartet, könnte enttäuscht sein.
Protokoll eines Verschwindens ist tief recherchiert, atmosphärisch dicht und emotional eindrücklich. Es schlägt eine Brücke zwischen True Crime und literarischer Reportage, mit genügend Spannung und Reflexion. Allerdings ist es kein Buch, das man leichtfertig weglegt – manche Szenen sind schwer zu ertragen. Für Leserinnen und Leser, die sich auf die Abgründe menschlichen Handelns einlassen wollen, ist dieses Buch sehr empfehlenswert.