Umfassendes Gesamtbild über ein unglaubliches Verbrechen

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Dieser Titel ist weit mehr als eine Lektüre – er ist eine forensisch genaue, zutiefst menschliche und erschütternde Reise in die dunkelsten Ecken der menschlichen Psyche. Alexander Rupflins Arbeit, ursprünglich inspiriert durch das Verbrechen-Magazin der Zeit, ist keine reißerische Nacherzählung, sondern eine literarische Reportage über ein unfassbares Verbrechen, dessen erschreckende Details der Autor akribisch rekonstruiert.

Die Geschichte beginnt mit einem Traum: Gabriel, ein junger Brasilianer, folgt seiner Schwester Isabella nach Hamburg, findet Arbeit in einer IT-Firma, verliebt sich und gilt als zuverlässig. Alles scheint nach Plan zu laufen – bis zu jenem Tag, an dem Gabriel spurlos verschwindet.

Für Isabella, die plötzlich mit der deutschen Bürokratie und der Unnahbarkeit der Großstadt konfrontiert wird, beginnt eine verzweifelte, isolierte Suche. Die Polizei erklärt den Fall zunächst als Routine – erwachsene Menschen hätten schließlich das Recht, alle Brücken hinter sich abzubrechen. Doch Isabella weiß instinktiv, dass ihr Bruder, der so fest im Leben stand, sie niemals ohne ein Wort im Stich lassen würde. Die Familie hört nie auf, nach ihm zu suchen – eine herzzerreißende Odyssee in einem Land, das für Isabella immer fremder wird.

Parallel dazu führt der Autor den Leser in die Welt des Pflegers Fabio. Ein scheinbar unauffälliger Mann, der sein Leben wie gewohnt weiterführt. Doch Fabio hütet ein monströses Geheimnis: In seinem Gästezimmer, sorgfältig verschlossen, liegt seit Monaten eine verwesende Leiche.

Dieses Protokoll eines Verschwindens ist die bittere Realität eines wahren Kriminalfalls aus dem Jahr 2019. Der Autor rekonstruiert detailliert und ungeschönt, was davor geschah: Wie der Täter Gabriel in seine Wohnung lockte, ihn betäubte und sich an ihm verging, nur um ihn dann mit brutaler Gewalt zum Schweigen zu bringen, als dieser wieder zu sich kam.

Alexander Rupflin, selbst in Hamburg verwurzelt, tauchte tief in diesen Fall ein. Er recherchierte intensiv, führte emotionale Interviews mit Isabella und reiste sogar nach Brasilien, um Gabriels Mutter zu treffen. Diese Nähe zu den Angehörigen gibt dem Opfer und seiner Familie eine dringende Stimme. Gleichzeitig geht er erschreckend nah an den Täter heran. Er beleuchtet Fabios Leben als Pfleger, der das Verbrechen verdrängt, es vor sich selbst beschönigt und sogar leugnet.

Der Autor protokolliert die Ignoranz und das verschobene Selbstbild eines Täters, der sich seine vermeintliche Unschuld einredet und die Schuld sogar auf das Opfer projiziert. Fabio führte sein Leben monatelang weiter, während der Leichnam in seiner Wohnung lag. Wenn er auf den Verwesungsgeruch angesprochen wurde, erklärte er diesen schlicht als Schimmel – und kam damit durch. Erschreckend, oder? Dieses detaillierte Sezieren der Täterpsychologie ist das wahre, erschütternde Herzstück des Buches.

Persönliches Fazit: Alexander Rupflins Reportage ist ein umfassendes Gesamtbild über ein unglaubliches Verbrechen. Es ist ein tiefgründiger, intensiver Blick auf die Abgründe der Psyche und die verheerenden Auswirkungen auf die Opferfamilie. Ein absolut lesenswertes Buch, das weit über den klassischen True-Crime-Roman hinausgeht und (sehr) lange nachhallt.