Ma, was heißt "normal"?

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metalpanda Avatar

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Ein Junge wird ein Jahr älter. Seine Mutter versucht, ihm seinen großen Tag so schön wie möglich zu gestalten: es wird zusammen gebadet, gespielt, Kuchen gebacken. Als Geschenk gibt es ein von der Mutter gemaltes Porträt des Jungen.

Die Szene klingt normal. Doch nichts ist normal in der kleinen Welt von Jack. Er weiß es nur nicht. Er kennt noch nicht mal die Bedeutung vom Wort „normal“. Für ihn ist der knapp 11 Quadratmeter große Raum das einzige, was er in diesem Leben kennt. Real sind der Raum, die wenigen Gegenstände darin, seine Mutter und „Old Nick“, der nur nachts kommt. Der Rest ist für ihn nicht echt. Er kennt keine Geschäfte, keine anderen Menschen, keine Tiere; die Berge, die er aus dem Fernseher kennt, sind für ihn genauso Fantasiegestalten, wie ebenfalls aus dem TV bekannte Spongebob. Schließlich wäre ein Berg viel zu groß, um in seine reale Welt – in den Raum – passen zu können. Jacks Weltansicht ist in „in echt“ und „im Fernsehen“ aufgeteilt, der Anteil von „in echt“ ist dabei verschwindend gering. „in echt“ sind Gegenstände für ihn auch lebendig: die Pflanze, der Tisch werden personifiziert. Er weint, wenn der Fernseher „stirbt“ und wenn seine Mutter die Spinnennetze vernichtet. Selbst die Sonne, die er nur durch das Oberlicht sieht, ist für ihn „Gott mit gelbem Gesicht“.

Selten hat mich eine Leseprobe auf so eine grausame Art und Weise gefesselt. Die Erzählung wird in „Ich“-Form aus der Sicht des kleinen Jack geführt. Die absichtlich eingefügten Grammatik- und Satzstellungsfehler stören zwar den Lesefluss etwas („Jeden Morgen haben wir tausend Sachen zu erledigen, zum Beispiel Pflanze Wasser zu geben, und zwar in Becken, damit nichts verschüttet. Dann stellen wir ihn wieder in seiner Untertasse auf Kommode.“), aber die erzählte Geschichte nimmt einen so mit, dass man sich am Versuch der Autorin, krampfhaft in „Kindersprache“ zu reden, gar nicht großartig stören kann.

Dem Leser wird schnell klar, dass Jack und seine Mutter von jemand, den Jack „Old Nick“ nennt, in diesem Raum gefangen gehalten werden. Warum und wieso, erfährt man nicht, denn Jack fühlt sich nicht gefangen – er wurde in diesem Raum geboren und hat ihn nie verlassen, für ihn ist es das Normalste der Welt, denn er kennt die Welt nur als diesen Raum. Für ihn ist es normal, im Kleiderschrank zu schlafen – denn seine Mutter versteckt ihn lieber vom „Old Nick“, Jack weiß zwar nicht genau, warum, aber das ist schon okay so. Nachdem Old Nick geht, holt ihn seine Mutter aus dem Schrank ins warme Bett – und seine Welt ist wieder in Ordnung.

Die Leseprobe ist extrem mitreißend und verspricht einen Roman, der fesselnd und erschreckend zugleich ist. Wird Jack je die Welt außerhalb von dem Raum kennenlernen? Anscheinend kommt Old Nick bereits seit mindestens zwei Tagen nicht mehr – so absurd es klingt, ist es fast eine noch schlimmere Situation für die Gefangenen, wenn sie von ihrem Peiniger nicht mehr mit dem Nötigsten versorgt werden können.

Der Grausamkeitseffekt wird dadurch verstärkt, dass so eine Geschichte gar nicht surreal ist – wie mehrere Fälle aus jüngster Vergangenheit belegen. Emma Donoghue spricht ein sensibles wie aktuelles Thema an, versucht die Sicht eines Kindes zu wiedergeben – eine perfekte Grundlage für einen Roman mit Gänsehaut-Gefühl inklusive.