Deine Mutti war ne schöne Frau

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owenmeany Avatar

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Historische Wendezeiten bieten immer eine Stofffülle für eindrucksvolle Romane, verweben sich in ihnen doch menschliche Schicksale wie in griechischen Tragödien in Dilemmata, denen die Protagonisten niemals schuldlos entrinnen können. Auch die jüngste Vergangenheit ist Schauplatz solcher Verwicklungen.

Wie setzt man das um in Literatur, ohne diese Geschehnisse in Trivialität und Austauschbarkeit zu verflachen?

Krietschel gelingt dies durch innere Distanz. Er lässt die Fakten für sich sprechen, die die Handelnden gerade in Kleinigkeiten kommentarlos charakterisieren, wie z.B. die Abneigung der bescheidenen Mutter gegen den Aufenthalt im Café vor aller Augen - nein, sie genießt allenfalls einen To-Go-Becher, verbittet sich dabei aber jegliche Störung.

Spannung baut der Autor auf durch die diskontinuierliche Erzählweise, die den Lesenden eine derartige Konzentration abverlangt, dass ich mir durchaus gelegentlich zur Abwechslung einen straight durchkomponierten Bericht wünsche. Von Anfang an erzeugt der Schriftsteller eine Aura des Rätselhaften, wie grauer Firnis überzieht zudem noch eine Trostlosigkeit den Roman. Das erreicht er mit kargen, dabei aber um so wirkungsvolleren sprachlichen Mitteln.

Die Grundkonstellation entsteht bei der Begegnung des jungen Pflegers Jan mit dem Patienten Günter. Die episodenhaften Rückblenden kann man eigentlich erst ganz kurz vor dem Ende in einem Aha-Moment einordnen, der aber auch nicht alle Fragen beantwortet. Mein Interesse wurde eigentlich vor der Lektüre geweckt durch den Bezug zum Künstler Georg Baselitz. Dass seine Rolle sich dann eher auf das Private beschränkt und sein Schaffensprozess als solcher kaum zur Sprache kommt, hat mich ein bisschen enttäuscht, aber Rietzschel stellt schon in der Vorrede klar, dass es sich hier um Fiktion handelt. Er hat eine exemplarische reale Konstellation gewählt, um zu demonstieren, was die Zurückgelassenen erlitten, wenn begabte Menschen nach ihrer Flucht im Westen Prominenz erlangten.

Unterm Strich empfehle ich diese komprimierte Studie geduldigen, an der deutschen Wendezeit interessierten Literaturbegeisterten, die aus lange nachhallenden Subtilitäten ihre Erkenntnisse ziehen.