Die literarische Stimme einer Generation

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Ich muss zu meinem Bedauern zugeben: Das Erstlingswerk von Rietzschel "Mit der Faust in die Welt schlagen" habe ich bisher noch nicht gelesen. Nach der Lektüre von "Raumfahrer" wandert es jetzt aber ganz weit nach oben auf der persönlichen Leseliste. Wenn es im Debütroman noch um die Radikalisierung ostdeutscher Jungendlicher ging, so beschäftigt sich der Autor im vorliegenden Werk mit einer schicksalhaft-verwobenen Geschichte zweier Familien, wie sie unterschiedlicher und gleichzeitig ähnlicher - durch die formell-staatlichen Umstände - kaum sein könnten. So verwebt der Autor die Geschichte von Jans Familie (Jan, 32 Jahre alt, noch kurz vor der Wende in Kamenz geboren) mit der des berühmten Malers Georg Baselitz (geboren 1938 in Deutschbaselitz, Nachbarort von Kamenz) und dessen Bruder Günter.

Artischockenhaft entblättert der Autor die Zusammenhänge und schicksalhaften Zusammentreffen der Familien über einen Zeitraum vom Kriegsende 1945 bis hin in eine Zeit 30 Jahre nach der Wende. Das alles schafft er auf nur schmalen 288 Seiten mit einer herunterdestillierten Sprache, die aber gekonnt das jeweilige Lebensgefühl der Protagonisten aufleben lässt. Die Sprache entspricht vollständig dem "ostdeutschen Sprachgefühl" und liest sich unglaublich leicht runter. Noch nie habe ich mich im Schreibstil eines Autoren/einer Autorin so passgenau wiedergefunden. Klasse! Wie lakonisch der Autor die Landflucht in der ostdeutschen Provinz durch wenige Worte dingfest macht. Wie gekonnt er Parallelen zwischen historischen und psychologischen Zuständen heraufbeschwört. Diese Passage über das Werk Baselitz' in den 60ern und 90ern sowie der Befindlichkeiten der Menschen in diesen Abschnitten der Geschichte ist eine der unzähligen nennenswerten Stellen des Buches: "Nachkriegszeit und Nachwendezeit. Trümmer beseitigen, nicht nur Brocken und Steine eingestürzter Häuser. Nicht nur die Fundamente suchen und ihnen nachweinen. Gebäude ließen sich abtragen und aufbauen, Erinnerungen nicht. Schmerzen nicht. Ob tatsächlich empfunden oder eingebildet. Schmerzen wie Steine, weitergereicht in einer Menschenkette von Hand zu Hand, um sie abzuklopfen und eventuell wiederzuverwenden." Das Ganze gespickt mit einer Andeutung von trangenerativen Traumata. Wie gesagt: Klasse!

Und Lukas Rietzschel scheint ein Allround-Talent zu sein, denn auch das Gemälde auf dem Cover stammt von ihm. Klassisch ostdeutsche Straßenlaternen erhellen die Kartoffeläcker des Arbeiter- und Bauernstaates vor dem Hintergrund einer aussterbenden Provinzstadt. (So meine Deutung). Ich bin vom Gesamtpaket überzeugt und ab jetzt ein Fan von Rietzschel.