Eine düstere Reise

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fraedherike Avatar

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„Nachkriegszeit und Wendezeit. Trümmer beseitigen, nicht nur die Brocken und Steine eingestürzter Häuser. Nicht nur die Fundamente suchen und ihnen nachweisen. Gebäude ließen sich abtragen und aufbauen, Erinnerungen nicht. Schmerzen nicht.“ (S. 270)

Losgelöst vom Erdboden, in der vergangenen Zeit stehengeblieben – so würde Jan seine Eltern beschreiben. Der junge Mann arbeitet im Krankenhaus und wohnt zurückgezogen bei seinem Vater; über die Mutter reden sie nicht, genauso wenig wie über die DDR-Vergangenheit der Eltern. Als eines Tages Herr Kern, ein Patient im örtlichen Krankenhaus, Jan eine Kiste mit alten Dokumenten überreicht, gerät das zarte Gleichgewicht der Familie aus den Fugen, denn wie sich herausstellt, haben sie eine Verbindung zueinander, die Jahre zurückliegt und Jans Eltern ebenso wie Herrn Kern fürs Leben zeichnen sollte. Vertieft in die Geschichte seiner Eltern und der Gebrüder Baselitz kommt er einer dunklen Vergangenheit auf die Spur, die ihre Fühler bis in die Gegenwart ausstreckt.

In seinem neuen Roman „Raumfahrer“ zeichnet Lukas Rietzschel umsichtig, aber unglaublich ausdrucksstark ein eindrucksvolles Bild der Auswirkungen der gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen des geteilten Deutschlands, einer Zeit, als die Mauer Familien trennte, Generationen von Menschen auseinanderbrachte und ihnen Narben zufügte, psychisch wie physisch, die auch noch Jahre später fühlbar sind. Seine reduzierte Sprache verleiht der Geschichte eine sehr präzise, fesselnde Sogwirkung, der Wechsel der Zeitebenen, die ständige Reise zwischen Gegenwart und naher wie ferner Vergangenheit lässt innehalten, erfordert Momente des Sackenlassens, des Nachwirkens.

Der Protagonist Jan erlebte eine traurige, graue Kindheit inmitten des Industriegebiets, umgeben von metallenen Gebäuden, Abgasen und abgelegener Stille. Seine Eltern schwebten stets in anderen Sphären, waren in der eigenen Vergangenheit verankert, haben komplett den Sinn zur Gegenwart verloren: Sie sind „Raumfahrer, schwebten in einer Zwischenwelt, ihrem Ausgangspunkt entrissen. Während die schwebten, hatte sich die Welt schon ein Dutzend Mal weitergedreht. Sie sahen dabei zu, streckten die Hände aus. Versuchten, vor- oder zurückzukommen. Hoch, runter. Aber wo sie sich befanden, gab es keine dieser Richtungen im Raum. Und Jan stand auf der Erde und richtete sein Fernglas aus sie.“ (S. 196) Entsprechend geistert Jan nun durch sein Leben, weiß nichts mit sich anzufangen und ist allgemein ein eher abwesender, unsicherer Mensch. Er agiert sehr passiv, es ist ihm egal, was ‚der alte Mann‘ von ihm möchte, am liebsten hat er seine Ruhe – die habe ich manchmal auch sehr gerne, aber mit Jan wurde ich nicht warm.

Es hat mich beeindruckt, wie fein und empathisch Rietzschel jedem seiner Protagonist:innen ihr:sein persönliches Trauma, eine eigene Atmosphäre verleiht, Ängsten und Träumen zwischen den Zeilen Raum gibt, eingesogen zu werden. Er bringt ein Tabuthema zutage, die graue Zeit der Überwachung und Erniedrigung, Zeiten von Angst und Flucht: "Können wir uns die nächsten vier Wochen nur bei laufender Waschmaschine unterhalten?" (S. 192) Noch dazu flicht er zeitgenössische Kunst ein, ein von ihm fiktional erschaffenes Schicksal wahrer Menschen, die phasenweise ein wenig der Rasanz raubten, aber nichtsdestoweniger interessant zu verfolgen waren.

Insgesamt hat mich „Raumfahrer“ arg für sich gefangen genommen, und das Charisma des Schreibstils Rietzschels wie die geschichtliche Relevanz und Bedeutsamkeit der Geschichte wirken noch immer nach.