Familienaufstellung im Osten

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Es beginnt mit einem alten Mann im Rollstuhl, irgendwo in Sachsen, der Jan während seiner Schicht im Krankenhaus ein Foto zeigt. Was genau er mit Jans Familie zu tun hat, bleibt lange unklar. Wie überhaupt vieles unklar bleibt in diesem Roman, doch das ist nicht schlimm, ganz im Gegenteil, dieses Schwebende, Ungewisse macht ihn so eindringlich. Nach und nach werden die Verbindungen zwischen den Familien deutlicher, alte Wunden werden sichtbar, der holprige Übergang von einer Staatsform in die nächste war nicht nur politisch schwierig, sondern brachte auch Dinge ans Licht, die lieber unentdeckt geblieben wären. Wer überleben will, muss sich anpassen, doch ist das überhaupt möglich, wenn gleichzeitig die Gefahr droht, dass alles Unsichtbare ans Tageslicht gezerrt wird? Jans Vater will mit den alten Geschichten nichts mehr zu tun haben, auch Jan versucht, die Distanz zu wahren. Doch das gelingt nicht, es wird immer deutlicher, was der Bruder von Georg Baselitz mit seinen Eltern zu tun hatte.
Lukas Rietzschel hat erneut einen Roman über den Osten Deutschlands geschrieben, der schmerzhaft zeigt, dass man sich seiner Vergangenheit nicht entziehen kann. Die Entscheidungen von Jans Mutter führten nach der Wende dazu, dass sie sich in den Alkohol flüchtete. Durch die verschiedenen Zeitebenen liest sich die Geschichte schnell und flüssig, fast wie ein Krimi. Man möchte die Zusammenhänge begreifen und merkt schnell, dass es keine einfachen Antworten gibt. Die Raumfahrer im Titel sind letztendlich alle Figuren im Roman, schwerelos und ohne Halt. Das bietet Chancen auf etwas Neues, aber auch die Gefahr, sich zu verlieren, keine Wurzeln zu haben, die das Ich in der Geschichte verorten. Der Roman erklärt nichts, aber legt vieles offen und weckt dadurch Verständnis für die Lebenswirklichkeit vieler Menschen in Ostdeutschland, die nach 1989 damit zurechtkommen mussten, dass sie vermeintlich nahestehende Menschen doch nicht so gut kannten wie gedacht. Es ist ein melancholisches Buch, das ich allen empfehlen kann, die sich für die Nachwirkungen der DDR interessieren.