Von Kapitalismus, Konsum und Konsorten

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laberlili Avatar

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Dieser Roman entpuppte sich für mich als echter Pageturner: Ich war mit so hohen Erwartungen an die vielversprechend klingende Handlung herangegangen, dass ich im Vorfeld bereits damit rechnete, dass diese nicht erfüllt werden würden können. Doch: konnten sie. Und wurden sie.
Dabei wechselt in „Reality Show“, abgesehen davon, dass der Roman achronologisch erzählt wird und immer wieder eingeschoben wird, wie die titelgebende Reality Show überhaupt vorbereitet wurde, quasi Kapitel um Kapitel die Perspektive und hier wird sich nicht nur auf die Leute hinter und die (unfreiwillig) Teilnehmenden der Show beschränkt, sondern es werden auch Zuschauer*innen vor den Bildschirmen beleuchtet.
Letztere werden an Heiligabend plötzlich mit einer auf allen Kanälen laufenden Live-Show konfrontiert, in der eine Auswahl der Reichsten der Reichen präsentiert wird, deren häufig zwar legalen, aber moralisch doch zumindest zweifelhaften und oft auch unethischen, Vorgehensweisen vorgeführt werden, woraufhin die Zuschauer*innen per Voting über Schuld/Unschuld dieser Personen und sogar über ihre Strafen abstimmen dürfen. Generell fallen die Geiseln wohl unter die Kategorie „schwerreiche Lobbyisten“, die die Politik zu ihren Gunsten steuern, und die ganze Sendung könnte statt „Reality Show“ auch „Eat the Rich“ heißen.

Was mir dabei gut gefallen hat, ist, dass besagte Geiseln durchaus Gelegenheit erhielten, zu „gestehen“ bzw. sich zu verteidigen und letztlich auch die „Normalos“ vor den Bildschirmen gezwungen waren, ihr eigenes Verhalten zu reflektieren, wenn es z.B. darum geht, dass darauf hingewiesen wird, dass auch ihnen längst klar sein müsste, dass die T-Shirts, für die sie nicht mehr als 5€ ausgeben, nicht aus Bio-Baumwolle unter Fairtrade-Bedingungen von gutbezahltem Fachpersonal handgenäht werden. Neben der Kapitalismuskritik kommt hier also durchaus auch Konsumkritik vor.

Wie erwähnt, wechselt hier ständig die Perspektive und nach den ersten vier Kapiteln war ich definitiv kurz besorgt, ob ich die Figuren weiterhin differenzieren würde können, zumal ich durch das Inhaltsverzeichnis bereits wusste, dass hier im weiteren Verlauf noch mehr Personen fokussiert werden würden; ebenso wie ich überlegte, ob die Geschichte letztlich überhaupt rund und nicht doch eher fragmentarisch sein würde, da ich mir nicht vorstellen konnte, wie „Reality Show“ intensiv wirken können sollte, wenn jeder in fünf Sätzen abgefrühstückt wäre. Was dann übrigens niemand war.
Kleinere Schwierigkeiten hatte ich zunächst lediglich damit, die Mitglieder des Teams hinter der ganzen Aktion auseinanderzuhalten, die zudem dann alsbald auch noch Codenamen erhielten ohne dass explizit gesagt wurde, wer jetzt welchen Namen „angenommen“ hatte, so dass man noch auseinanderklamüsern musste, wer da eben nun wie genannt wurde. Allerdings war das Team auch gar nicht so wesentlich; da ging es definitiv mehr um die Aktion der „Reality Show“ und deren Thematik und eben auch absolut nicht darum, sich in irgendeiner Form zu profilieren, von daher passte es ganz gut, dass die Team-Mitglieder als Individuen eher in der Masse untergegangen sind.

Ich habe diesen Roman ungemein gerne gelesen; für mich zählt er zu meinen ganz großen Jahreshighlights, von denen ich 2021 eher wenig hatte; es hat mich auch verblüfft, wie hier so viel Inhalt in einen nicht auffällig langen Roman gepackt werden hatte können und dabei wurde auch sehr deutlich gemacht, dass die titelgebende Live-Show bis ins kleinste Detail hinein durchorchestriert war: Man musste sich nicht groß fragen, wie das kleine Team es geschafft hatte, diese Show aufzuziehen, durch die Rückblenden sowie Blicke hinter die Kulissen während der Übertragung war es nachvollziehbar – so dass man im Nachhall noch überlegen konnte, ob diese Show so auch in unserer Realität durchgeführt werden könnte. Generell gab es aufgrund der angesprochenen Vergehen relativ viel zum (weiteren) Nachdenken und insgesamt war die „Reality Show“ sowohl die im Roman als auch der Freytag-Roman selbst einfach ganz großes Kino!