Gelungener Trilogie Auftakt um eine international angelegte Verschwörung

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alekto Avatar

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Olof Helander gibt in seinem luxuriösen Anwesen im Schärengarten, das von seinem Handel mit Emissionsrechten finanziert worden ist, ein Mittsommer-Fest für wenige ausgewählte Gäste. Dazu zählt der chinesische Geschäftsmann Chen Bao, der ebenfalls in der Klimabranche tätig ist. Helanders vierzehnjährige Tochter Astrid ist nur widerwillig auf der Feier anwesend, um die Familie zu repräsentieren. Aber dann nehmen die Ereignisse eine unerwartete Wendung und Kommissar Johnny Munther hat an der Seite seiner Partnerin Carmen Sanchez in einem brutalen Mordfall zu ermitteln.

John Ajvide Lindqvist hat mit seinem vorangestellten Prolog, der zeitlich im Mittsommer 2019 angesiedelt ist, einen starken Einstieg in seinen Thriller gefunden, indem die Spannungskurve darin nach nur wenigen Seiten von Null auf 100 hochgeschnellt ist. Die eigentliche Handlung von Refugium setzt dann fünf Monate zuvor im Januar 2019 ein und führt im ersten Teil, der den Titel “Julia und Kim” trägt, die beiden Protagonisten ein.
Julia Malmros, die Anfang fünfzig ist, ist früher Kommissarin gewesen so wie bereits ihr nun an Demenz erkrankter Vater Polizist gewesen ist. Aus dem Dienst ist sie vor Jahren ausgeschieden, seit sie von den von ihr verfassten Kriminalromanen, die um Asa Fors kreisen, leben kann. Mittlerweile ist sie als Schriftstellerin derart erfolgreich, dass ihre Krimis als Serie verfilmt werden und ihr die Ehre zugestanden wird, eine Fortsetzung für die Millennium-Reihe um Journalist Michael Blomkvist und Hackerin Lisbeth Salander zu schreiben. Im Zuge ihrer Recherche wird für Julia vom Verlag der Kontakt zum Cracker Kim Ribbing hergestellt, der ihr das Basiswissen vermittelt, damit sie im Entwurf ihres Romans die Aktionen von Salander glaubwürdig wiedergeben kann.
Kim, der Ende zwanzig ist, fällt durch seine äußere Erscheinung auf. Dessen ehemals blondes Haar ist lang gewachsen und schwarz gefärbt. Seine Statur ist beinahe zierlich, aber vom Turnen durchtrainiert und seine Haut ist von unzähligen Narben überzogen, die Zeugnis ablegen für die Folter, deren Opfer er in jungen Jahren geworden ist. Dabei wird Kims ihn noch heute belastende Vergangenheit erst nach und nach enthüllt.
Neben der Perspektive von Julia und Kim werden einzelne Abschnitte aus Sicht von Astrid, der traumatisierten Zeugin des im Prolog erfolgenden Massakers, sowie von den in diesem Fall ermittelnden Polizisten Johnny, der sich durch seine penible Arbeitsweise auszeichnet, und seiner so cleveren wie sympathischen Partnerin im Job Carmen geschildert. Astrid, die sich in den sozialen Medien gegen die Massentierhaltung engagiert, ist ihren Eltern gegenüber ein rebellischer Teenager gewesen und hat ihre Ich-Bezogenheit herausgestellt, als sie mit den Gefühlen eines nerdigen Verehrers gespielt hat. Johnny, der Julias Ex-Mann ist, hat deren Scheidung nicht verwunden, wenn er jeden Vorwand dazu nutzt, sie zu kontaktieren, um sie zu einem Treffen zu überreden.

Der grundlegende Aufbau von Refugium ließe sich als Variante eines Millennium-Romans beschreiben, bei dem die Geschlechter der beiden Hauptfiguren vertauscht worden sind. Kim übernimmt damit die Rolle von Salander und Julia die von Blomkvist. Auch kommen die beiden durch diverse Zufälle bedingt einer groß angelegten Verschwörung auf die Spur. Diese Parallelen greift Lindqvist jedoch selbst in einer geschickt in diesen Thriller integrierten Meta-Ebene auf, indem Julia einen neuen Millennium-Roman mit Arbeitstitel Stormland verfasst. Darin versucht sie die genannte Idee umzusetzen, um ihr Werk veröffentlichen zu können, ohne dass die Rechte der Millennium-Reihe dabei verletzt werden.
Zudem wird die im weiteren Verlauf der Handlung von Refugium am Rande eingebundene Me-Too Geschichte, die aufgrund der vertauschten Rollen irritierend auf mich wirkte, bereits zuvor angedeutet. Denn Julia hat eine ebensolche für ihr Buch Stormland geschrieben, die sogar von ihrer kritisch eingestellten Lektorin positiv hervorgehoben wird. Was den Humor betrifft, haben mich gerade die Abschnitte, die rund um das Verlagswesen kreisen, überzeugt. Dazu zählen Julias konfrontatives Aufeinandertreffen mit ihrer neuen Lektorin, das sich daran anschließende Interview, das Julia im Fernsehen gibt, und die daraus resultierenden Ereignisse, die Julia zur Schlagzeile des Tages werden lassen. Mit dem satirisch scharfen Blick, den Lindqvist auf den Literaturbetrieb wirft, trifft er ins Schwarze.

Abgesehen davon habe ich die in Refugium vorherrschende Stimmung, die trotz der expliziten sexuellen und teilweise recht grausamen Szenen eher humorvoll geraten ist und sich damit deutlich vom düsteren Ton der Vorlage abhebt, als wenig passend empfunden. Denn diese wollte sich für mich vor dem Hintergrund des eingangs geschilderten brutalen Massakers und anderer Straftaten aus Kims Jugend, aber auch aus seinen aktuellen Projekten, die vor Gewalt gegen Kinder nicht zurückschrecken, nicht zu einem stimmigen Ganzen fügen. Ebenfalls hat für mich die Chemie zwischen Julia und Kim nicht gestimmt, die nicht mehr als deren Bettgeschichte zu verbinden scheint. Das mag bei Kim wegen seiner schwierigen Vergangenheit nachvollziehbar gewesen sein, ist für mich aber in der Charakterisierung von Julia unglaubwürdig gewesen, wenn sie als erfahrene Frau eine ihrem Alter angemessene Reife missen ließ und sich in Kims Gegenwart noch kindischer als er verhalten hat.
Ein zusätzlicher Kritikpunkt, der dem Autor wohl selbst aufgefallen ist, weil er diesen Julia an ihrem Roman Stormland bemerken lässt, ist die Häufung von Zufällen durch die die eigentliche Handlung dieses Thrillers überhaupt erst in Gang gesetzt und dann weiter am Laufen gehalten wird. Dazu zählen die Verbindung von Julia zum Fall Hellander, dem ihr Ex-Mann zugeteilt ist, ihre persönliche Beziehung zum Opfer, ein alter Fall aus Julias Zeit als Polizistin, der in die aktuelle Ermittlung hineinspielt, ein über die Recherche für ihren zweiten Asa Fors-Roman hergestellter Kontakt sowie der gleiche Therapeut, der Astrid und Kim nach ihren traumatischen Erlebnissen behandeln soll. Für mich ist das ab einem gewissen Punkt dann doch der eine Zufall zu viel gewesen.
Dieser Thriller hätte stärker ausfallen können, wenn Lindqvist sich gerade im Kontext der von ihm inszenierten, sich auf internationalen Niveau bewegenden Verschwörung, die nach und nach aufgedeckt wird, nicht derart stark auf seine beiden Protagonisten fokussiert hätte. Stattdessen hätte er sich auf ein breiteres Figurenarsenal stützen können, so dass sich die hohe Zahl an Zufällen nicht auf Julia und Kim hätten konzentrieren müssen. Dadurch hätte sich Refugium auch deutlicher von der Millennium-Reihe abgrenzen können.