Atmosphärisch und dicht, bildhaft und bewegend

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angie99 Avatar

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Es ist eine simple Aufgabe: Tom soll seinen in Sunderland studierenden, an einer Grippe erkrankten Sohn Luke für die Weihnachtsfeiertage nach Hause holen. Frühmorgens startet er in Belfast mit seiner halbtägigen Autofahrt.
Relativ unspektakulär, aber reflektiert nimmt Ich-Erzähler Tom seine Leserschaft mit auf diese Reise durch verschneite Landschaften. „Ich schalte das Radio ein und erwische den Wetterbericht. Weiter Schneefälle sind zu erwarten, doch diesmal trifft es den Süden Englands. Zum Schluss wird vor Reisen gewarnt, die nicht unbedingt notwendig sind. Keine Reise ist so notwendig wie die zum eigenen Sohn, um ihn nach Hause zu holen, um den kranken Sohn nach Hause zu holen, erkläre ich der Radiostimme.“ (S. 18)
Er versteht es, zu beschreiben, denn Tom ist Fotograf; er hat einen geübten Blick für die Bilder, die links und rechts an ihm vorbeiziehen. „Doch obwohl der Schnee die Welt auf den ersten Blick vereinheitlicht, spüre ich jede Vibration meines Autos und sehe in allem ein Wegzeichen, das mich leitet – in einer mit Schnee betupften Steinmauer, einem auffälligen Baum, der aussieht, als hätte er ein im Wind flatterndes Brautkleid an, in den weiß überzogenen Straßenschildern.“ (S. 52)

Die Fahrt unter prekären Straßenverhältnissen, angeleitet von der Stimme des Navis, Telefonanrufe und Begegnungen unterwegs, die vorbeiziehende Landschaft – all das mischt sich in Toms Kopf zusammen mit Gedankensplittern und aufploppenden Erinnerungen.
Das hört sich nun ein bisschen so an, als hätte der Autor ein paar beliebige Themen in einen Topf geschüttet, etwas umgerührt und fertig. Und tatsächlich vermisse ich anfangs noch eine gewisse Struktur in der Erzählung. Alleine die bildhafte Sprache, die mit alltäglichen Begriffen die entrückte Atmosphäre auf der Fähre und den verschneiten Straßen einzufangen weiß, lässt mich weiterlesen.

Doch bald wird aus wenigen Andeutungen klar, dass dieser scheinbar so einfache Auftrag einen viel tieferen Sinn in sich birgt: das Zusammenhalten einer Familie, in der nichts mehr so ist, wie es einmal war. „Es wird nicht leicht, es ist das erste Weihnachten, aber wir haben darüber gesprochen und sind uns einig, dass wir es Lilly zuliebe durchziehen müssen. Sie ist noch klein, sie findet Weihnachten toll, und sie hat ein Recht darauf, dass wir ihre Erwartungen so gut wie möglich erfüllen.“ (S. 41)

Was ist passiert? Was hat die Familie so arg durcheinandergeschüttelt, dass sie sich so sehr an dieses gemeinsame Weihnachtsfest klammert?

Je länger die Fahrt andauert, desto mehr verlagern sich Toms Gedanken nach innen; von spontanen, oberflächlichen Wahrnehmungen zu einer Innenansicht seiner verletzten Seele. Immer aufwühlender und eindringlicher wird den Lesern bewusst gemacht, dass die Fahrt nach Sunderland nicht nur für die Überwindung geographischer Distanzen zuständig ist, sondern zu einer symbolischen Reise zum eigenen Ich wird.
Was zu Beginn noch ein wenig nach Tütensuppe schmeckt, wird zu einem höchst tiefgründigen, berührenden Mahl, das sich besonders auf den letzten Seiten als geradezu perfekt durchkomponiertes Meisterwerk erweist.

In diesem Buch gibt es keine Abkürzung und keinen Deus ex machina.
„Ich bin nicht religiös, aber ich denke an die, die durch Wüsten und über staubiges Land gezogen sind, letztlich, um ihrem Glauben zu folgen, und deren Reise an einem Ort zu Ende ging, mit dem sie nie gerechnet hätten. Ich habe keinen Glauben, doch zu manchen Zeiten habe ich mich gefragt, ob mich einer erfassen könnte, denn der Glaube eröffnet Dinge, die nur durch ihn zugänglich sind.“ (S. 180)
Tom muss sich seinen Abgründen, seiner Schuld, seinen eigenen Vorwürfen stellen. Wie er dies tut und wie er letztlich als anderer Mensch in Sunderland ankommt, ist höchst bewegend.

Ebenso David Parks Schreibstil. Er ist melancholisch und doch hoffnungsvoll. Aus dem Leben gegriffen, aber nicht trivial. Handlungsarm, aber nicht langweilig. Voller Metaphern, aber nicht überladen.
Für mich Schreibkunst auf höchstem Niveau.

Deshalb fünf Sterne und eine klare Empfehlung für alle, die keine geballte Action brauchen, sondern menschliche Innenansichten genug spannend finden, um sich damit zu beschäftigen. (Am interessantesten übrigens, wenn man den Mini-Spoiler auf dem inneren Klappentext auslässt und sich komplett von der Geschichte überraschen lässt! 😉)