Intensive Auseinandersetzung mit einem verlorenen Sohn

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Nordirland ist im Schnee versunken, der Flugverkehr wurde eingestellt. Trotz widriger Wetterverhältnisse beschließt Ich-Erzähler Tom, seinen im rund 400 km entfernten Sunderland (an der Ostküste Englands) studierenden Sohn Luke mit dem Auto an Weihnachten nach Hause zu holen. Mutter Lorna sorgt sich, weil sich Luke offenbar eine schwere Grippe zugezogen hat. Fast heroisch bricht der Vater auf. Als Leser spürt man sehr schnell die tiefere Bedeutung dieser Unternehmung. Tom nimmt bewusst Gefahren auf sich, um den Sohn zu „retten“. Was zunächst vollkommen übertrieben erscheint, bekommt im Verlauf der Geschichte einen tieferen Sinn. Neben der 10-jährigen Tochter Lilly hat das Ehepaar nämlich noch ein weiteres Kind, den ältesten Sohn Daniel. Um ihn kreisen Toms Gedanken auf der Reise, der Leser wird lange im Unklaren darüber gelassen, was konkret die Ursachen für Toms offensichtliche Schuldgefühle sowie für sein Bedürfnis mit dieser Reise etwas wieder gutmachen zu wollen, sind. Daniel ist das beherrschende Thema in Toms Gedankenstrom:

„Manchmal blitzt er beim Autofahren im Augenwinkel auf, und manchmal ist er kurz vor dem Einschlafen da, aber immer ein Stück entfernt, und ich frage mich, soll ich aufstehen und nachsehen, ob die Tür auch wirklich nicht verriegelt ist, damit er nach Hause kommen kann, wenn er will.“ (S.24)

Der Roman hat mehrere Ebenen. Neben den beiden Erzählebenen, die einerseits aus den Erlebnissen und Begegnungen Toms auf der beschwerlichen Reise und andererseits aus seinen erwähnten Reflexionen bestehen, ergibt sich eine tiefere Metaphorik. Der Schnee, die Gefahren durch Eis und Glätte, die Suche nach dem richtigen Weg – in vielem steckt hier Mehrdeutigkeit. Die Reise zum Sohn wird zur Reise ins eigene Selbst.

Tom berichtet über wesentliche Ereignisse aus seinem Familien- und Berufsleben als Fotograf, der immer durch eine Linse schaut und nur einen eingeschränkten Blick auf die Welt hat. Seine Erinnerungen springen durch die Zeit und wirken tatsächlich wie eingefangene Momentaufnahmen. Nach und nach komplettiert sich aber das Gesamtbild, zeigt sich Ursache und Wirkung.

„Die Leute verstehen nicht, was ein Foto ist. Sie glauben, es würde den Augenblick einfrieren, dabei befreit es ihn aus der Zeit. Was die Kamera erfasst hat, tritt für immer heraus aus dem unaufhaltsamen Lauf der Zeit. Es wird immer da sein, immer genau so leben, wie es exakt in dieser einen Sekunde war, mit demselben Lächeln oder Stirnrunzeln, derselben Himmelsfärbung, demselben Licht- und Schattenfall, demselben Gedanken und Herzschlag.“ (S. 175)

Tom reflektiert auch seine eigene Person kritisch. Er hat wenig Heldenhaftes an sich, beschreibt sich als schwach, zu Depressionen neigend, oft den Weg des geringsten Widerstands gehend. Er möchte ein guter Vater und Ehemann sein, der Schaden von seiner Familie fernhält. In diesem Bewusstsein ist er unterwegs, das ist sein Mantra. Wenn es ihm gelingt, Luke rechtzeitig zum Weihnachtsfest nach Hause zu holen, kann er Vergebung finden. Aber was ist konkret geschehen, von dem außer ihm niemand weiß und das sein Gewissen enorm belastet?

„Ich kann die Schuld, die er mir zuschreibt, nicht mehr auf mich nehmen, denn sie würde mich so tief runterziehen, dass ich nie wieder auf die Beine käme.“ (S. 44)

David Park führt den Leser sehr langsam und in Umwegen an den Kern seiner Geschichte heran. Man braucht etwas Geduld. Es passiert nicht viel, dennoch entwickelt sich ein starker Sog. Die Sprache ist ein Genuss, ich würde sie als extrem bildlich, ausdrucksstark, intensiv und fast lyrisch bezeichnen. Die Beschreibungen der verschneiten Landschaft, die Fragmente seiner Erinnerung, die aktuellen Erlebnisse während der Reise – alles wird in vielen visuellen Details ausgeleuchtet, die die Vorstellungskraft des Lesers anregen. Das in diesem Maße zu beherrschen, ist große Schreibkunst. Der Autor hat eine phänomenale Beobachtungsgabe, man findet unzählige tiefgründige, nachdenkenswerte Sätze. An dieser Stelle sei die gelungene Übersetzung von Michaela Grabinger, die gewiss keine leichte Aufgabe war, ausdrücklich hervorgehoben.

Das Buch erfordert einen aufmerksamen Leser und passt wunderbar in die dunkle, winterliche Jahreszeit. Ich habe mich völlig in dieser ruhigen, melancholischen Erzählung verlieren können, die aus meiner Sicht ein kleines Meisterwerk ist und gewiss noch Literaturpreise gewinnen wird. Hoffentlich macht der DuMont Verlag dem deutschen Publikum noch weitere Werke von David Park zugänglich.

Riesengroße Lese-Empfehlung an alle Leser, die das Besondere schätzen und sich gerne mit einer intensiven, vielschichtigen Geschichte auseinandersetzen.