Literarischer Road Movie

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leseleucht Avatar

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Ein Vater macht sich auf, den kranken Sohn nach starken Schneefällen zu Weihnachten nach Hause zu holen, um eine Schuld zu begleichen …
Die Fahrt führt ihn „durch ein fremdes Land“, eine Winterlandschaft, deren Schnee alles verhüllt, das gewohnte Leben lahmlegt, alles drosselt und den Menschen auf sich selbst zurückwirft. Die Frage stellt sich, ob alles wieder so sein wird, wie es war, wenn der Schnee das Land und das Leben frei gibt.
In atmosphärischen Bildern gibt der Erzähler, der von Beruf Photograph ist und ein Auge für die Dinge hat, auch wenn er von sich Gegenteiliges behauptet, photographiert er in der Regel doch profane Menschengruppen bei Schulfesten oder Hochzeiten, die Eindrücke der Winterlandschaft wieder, so wie sie auch der Leser kennt, wenn er sich durch extremen Schneefall in einen Ausnahmezustand versetzt fühlt: wenn der Schnee alles einhüllt, allen Lärm schluckt, die Welt auf einmal geheimnisvoll, aber auch bedrohlich erscheint, wenn es kein Fortkommen mehr gibt, die Mobilität eingeschränkt ist und der Weg zur Gefahr werden kann.
Zugleich wird die Fahrt für den Vater auch eine Reise durch ein anderes „fremdes Land“, sein Seelenleben, an dem er den Leser teilhaben lässt: welche Fragen treiben ihn um, welche Gedanken quälen ihn, welche Erinnerungen ergreifen von ihm Besitz? Nach und nach enthüllen sich sein beruflicher Werdegang, das Gefühl der Unzulänglich im Beruf, nur ein 08/15-Photograph zu sein, dem das Auge für den besonderen, den ganz großen Moment fehlt; seine private Entwicklung, das Gefühl der Unzulänglichkeit als Ehemann und Vater, der Schwächen hat und Angst, vor der eigenen Einsamkeit und um das Lebensglück der ihm Anvertrauten. Beides führt zu einer – wie er sagt – leichten Depression. Dass dieser Mann allen Grund zur Traurigkeit bis hin zur Sehnsucht nach Schlaf hat, die gerade im Schnee einen tödlichen Ausgang haben kann, offenbart sich immer mehr. Dass dieser Mann eigentlich gar nicht ängstlich und schwach ist, zeigt sich immer wieder, beim Kennenlernen seiner Frau, bei der langen Fahrt zu seinem Sohn ganz allein über unwegsame, unfallträchtige Straßen im Schnee und bei der Konfrontation mit seinem Geheimnis in der Vergangenheit, das zu lüften er sich nicht traut, aus Angst, alles, was ihm geblieben ist, auch noch zu verlieren. Aber er enthüllt es dem Leser, indem er sich der Vergangenheit stellt, und somit entdeckt die Fahrt durch den Schnee, der alles Leben sonst zu verhüllen scheint, dem Erzähler selbst sein eigenes Leben.
Es geht um Väter und Söhne, um Zugehörigkeit und Einsamkeit, um Zuhause und Obdachlosigkeit, um Suchen und Finden. Der Leser ist stiller Beifahrer im Auto auf der Reise „durch ein fremdes Land“. Er fühlt sich dem Erzähler vertraut und kann ihn doch nicht erreichen, nicht trösten und trauert mit ihm und wünscht ihm, dass die Stimme (aus dem Navi) ihm verkündigen möge: „Sie haben ihr Ziel erreicht.“ Es rühren ihn an die Bilder aus der Schneelandschaft, er fühlt, hört, sieht und atmet sie. Auch wenn er sich mehr von ihnen und vielleicht auch andere, aus dem einzigartigen Blickwinkel eines photographischen Auges gezeigte gewünscht hätte, da sie immer mehr hinter die Bilder aus der Vergangenheit des Erzählers zurücktreten. Aber diese Bilder auf die Momente und insbesondere auf die Menschen aus dem Leben des Erzählers, das sind die, die der Erzähler sich eigentlich nicht zutraut: die besonderen, die einzigartigen, die einen großen Moment außerhalb von Zeit und Raum für immer festhalten.
Ein sehr leises Buch, ein sehr intensives Buch, an dessen Ende der Leser nicht weiß, ob er erschüttert oder getröstet ist.