Wer man wirklich ist...

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Wenn ich einen historischen Roman lese, bemühe ich mich erst einmal herauszufinden, von wem da eigentlich die Rede ist. Karl V., Kaiser des Heiligen Römischen Reiches und als Karl I. auch der König von Spanien, lebte von 1500 bis 1558. Nach einem kriegsreichen Leben trat Karl 1556 von seinen Herrscherämtern zurück und zog sich in seinen Palast neben dem Kloster von Yuste in Spanien zurück, wo er schließlich auch verstarb.

In Yuste beginnt auch dieser Roman, und Karl widmet sich nun nur noch dem Verfassen seiner Autobiografie und seinem christlichen Glauben. Er möchte nach seiner Herrscherzeit herausfinden, wer er wirklich ist, jetzt, wo er keinen Königs- und keinen Kaisertitel mehr trägt, und nur noch Mensch unter Menschen ist. Karl isst und trinkt zu viel, sein Gesundheitszustand ist bedenklich, er versucht dem mit Laudanum, Bier und Gebeten entgegenzuwirken. Er ist in seinen Gedanken verfangen, beschäftigt sich mit der Vergangenheit, Zweifel inklusive, mit der Gegenwart, beispielsweise wie man ihm nun begegnet, und mit der Zukunft, der Hoffnung eines Lebens nach dem Tod im Reiche Gottes.

So legt Arno Geiger die Figur des abgedankten Herrschers an, recht trostlos und melancholisch und am Ende seines Lebens. Und doch entkommt Karl dieser Abwärtsspirale. Er begegnet in Yuste dem elfjährigen Geronimo, der nicht weiß, dass er Karls illegitimer Sohn ist. Und in diesem Jungen sieht Karl die Chance, dem eintönigen Warten auf den Tod zu entkommen: er macht sich in einer Nacht- und Nebelaktion mit Geronimo auf die Reise nach Laredo, eine Stadt am Meer.

Mit Beginn dieser Reise begibt sich der historische Roman ins Reich der Fantasie und der Märchen. Denn hiervon hat sich im wahren Leben Karls V. nichts zugetragen. Karl und Geronimo begegnen schon bald den Geschwistern Honza und Angelita, zwei Cagots (Angehörige einer baskischen Menschengruppe, die zu jener Zeit in Spanien verfolgt und diskriminiert wurde), die nirgends "Heimatrecht" haben und Willkür und Gewalt ausgeliefert sind. Eine schreckliche nächtliche Folterszene ist denn auch der Beginn ihrer Bekanntschaft, die im Verlauf der Erzählung jedoch zu einer recht verschworenen Gemeinschaft wird. Doch als Karl in einem düsteren Bergdorf Halt machen lässt, wird diese Gemeinschaft wieder auf die Probe gestellt.

Bis zur Ankunft in dem Bergdorf habe ich der Erzählung gerne gelauscht. Matthias Brandt ist wirklich eine sehr gute Besetzung der Sprecherrolle für diesen Roman mit seinem langsamen Erzähltempo (ungekürzte Hörbuchausgabe: 7 Stunden und 41 Minuten). Doch haben mir die Szenen in dem Bergdorf, die einen breiten Raum einnehmen und für mich das Gefühl von Langatmigkeit immer stärker werden ließen, überwiegend nicht gefallen. Es mag sein, dass hierin eine versteckte Symbolik liegt (vielleicht die Versuchungen des Teufels o.ä.), aber das muss man sich selbst herausschälen. Karl jedenfalls erliegt hier vielen Versuchungen, v.a. denen des Spiels und der Trinkerei, er verliert sich, sein Ziel und seine Begleiter vollkommen aus den Augen, lässt sich durch die Tage und v.a. durch die Nächte treiben und mutiert zum Saufbruder, der sich jede Nacht beim Kartenspiel ausnehmen lässt und damit alles Geld verspielt. Die Begegnungen in dem Dorf sind durch Misstrauen und Heimtücke geprägt, hier gibt es keine Lebensfreude, keine Freundschaft, keine Sonne. Düster und in der Konsequenz schwer erträglich.

Ob Karl sich letztlich aus dem Bann der verwunschenen Totenstadt befreien kann und sein Ziel Laredo erreicht? Das wird hier nicht verraten, sondern muss selbst erlesen werden.

Ein letztlich handlungsarmer Roman, der sich v.a. auf die Gedanken und Empfindungen Karls V. konzentriert, philosophisch-poetisch-nachdenklich erzählt, ohne große Spannung, der aber trotz der langatmigen und melancholischen Passagen auch einen interessanten Ansatz bietet. Nicht mein favorisiertes Buch von Arno Geiger, aber lesenswert.


© Parden