Ein Thriller?

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Auf dem Roman „Remember Mia“ steht es unübersehbar: Thriller. Was ist ein Thriller? Ein Roman mit besonderer Spannung, dramatischer, nervenkitzliger als ein normaler Krimi. Häufig arbeiten Thriller-Autor(inn)en nach einem Muster: Ein Opfer (oft eine Frau) leidet, wird ermordet. Wahlweise steht auch zu Beginn schon der Mörder im Zentrum. So auch häufig bei den Bestsellerautorinnen Tess Gerritsen oder Karin Slaughter. Dann erst kommt der Ermittler/die Ermittlerin ins Spiel ...
Und „Remember Mia“? Dieser Roman erfüllt in vieler Hinsicht nicht das „Muster“ der Krimis, die mir bekannt sind. Ob er trotzdem lesenswert ist, dazu nun Stück für Stück mehr.


1. Ort und Zeit der Handlung
Ziemlich zu Beginn der Geschichte ist von Dover die Rede. Dover? Das ist für mich mit England verbunden, mit Ärmelkanal, mit den typisch britischen, etwas steifen Ermittlern.
Doch falsch gedacht – dieses Dover befindet sich in den USA, New York, Chicago sind andere Städtenamen, die fallen. In vielerlei Hinsicht könnte die Geschichte aber ebenso gut in Deutschland, in Dänemark, Italien, Frankreich oder Kanada spielen.
Zeit ist die Gegenwart.

2. Die Figuren
**a) Estelle Paradise
Der Name klingt schon künstlich – würde an sich zu Dover passen – und in das Bild eines Rosamunde Pilcher Romanes (wie Nicht-Pilcher-Leserinnen wie ich das klischeeweise sich vorstellen)
Sie ist die ganz zentrale Figur dieser Geschichte. Am Anfang, in der Leseprobe, war sie eine Figur, die mich gereizt hat: Eine erwachsene Frau, eine Mutter, die einen Unfall hinter sich hat, deren Tochter vermisst wird.
Doch im Laufe der Geschichte wird sie dann erst einmal (für mich) zu einer unselbständigen Mutter, zu einer Frau, die mit ihrer neugeborenen Tochter nicht klar kommt, die hysterisch wirkt, die tatsächlich auch ihrem Mann das Leben schwer macht.
**b) Jack
Estelles Mann passt auch in ein Klischee, vielleicht sogar in eins der Pilcher-Welt: Smarter Anwalt, der Estelle erst um ein Date bittet, der sie umwirbt, der sie heiratet, als sie schwanger wird, der sich liebe- und verantwortungsvoll zu kümmern scheint. Doch aus Estelles Sicht lässt er sie auch im Stich, als das neugeborene Töchterchen nur schreit und nicht zu beruhigen ist.

3. Die Geschichte
Estelle wacht in einem Krankenhaus auf: Ein Ohr ist weg, der Kopf verbunden, sie braucht ein Spezialgerät, um zu atmen, sie weiß nicht, was passiert ist.
Dann stellt sich heraus, ihr Baby, die sieben Monate alte Mia, wird vermisst. Estelles Mann Jack kommt, wirkt vorwurfsvoll.
Dann der Rückblick: Estelle arbeitet als Empfangsdame in einem Restaurant, in dem viele Anwälte zu Gast sind, so auch Jack. Der bittet sie erst um eine Verabredung, die beiden verlieben sich, heiraten, als Töchterchen Mia unterwegs ist. Mia kommt zur Welt, und Estelle ist schnell überfordert, da die Kleine ständig schreit, die Ärzte, die sie gleich reihenweise aufsucht, stellen alle die gleiche Diagnose: Mia hat Koliken, das gibt sich. Doch Estelles Nerven liegen blank, das Töchterchen schreit unaufhörlich, scheint sich dagegen bei Jack oder bei anderen zu beruhigen. Estelle wirkt hysterisch, glaubt, dass Jack fremd geht. Der gesteht ihr, dass er sich verspekuliert hat, nimmt einen neuen Job an, beide leben dadurch getrennt, sie in einem maroden Haus, das er gekauft hat, er an seinem neuen Arbeitsort. Dann verschwindet Mia, Estelle findet keine Hilfe, es kommt zum Unfall.
Hat sie, die hysterische, die völlig überforderte Mutter den Tod ihrer Tochter verursacht? Oder hat sie die Kleine nur entführt/weggeben? Estelle gerät unter Verdacht.

4. Themen
a) Muttersein
Ich sag es ganz offen: Ich habe keine Kinder, weiß daher nicht, wie es ist, wenn ein Kind, das nicht sagen kann, wo es drückt, ob es Hunger hat, Schmerzen, ob die Windel voll ist, ob es auf den Arm will, ob es müde ist oder was auch immer ... Ich kenne auch in meinem Umfeld keine so wirklich überforderten Eltern, die meisten scheinen – auch bei Koliken und Krankheit – ihre Kinder recht gut geschaukelt zu haben.

Trotzdem hab auch ich natürlich schon von Wochenbett-Depressionen und überforderten Eltern gehört. Estelle scheint sehr, sehr deutlich in diese Kategorie zu fallen. Das ist zwar sicher nicht ganz die Regel, aber sicher auch nicht der absolute Ausnahmefall. Trotzdem muss muss man diese Thematik „mögen“. Ich als Nicht-Mutter bin da eher nur mäßig begeistert.

b) Ehe
Natürlich gehört beides zusammen: Ehe und Muttersein. Das heißt zwar nicht, dass jede Ehe zwangsläufig zu Kindern führt oder dass jede Mutter verheiratet ist. Aber auch das Muster, dass sich Liebe mit der Zeit abkühlt, dass bei vielen Paaren auch tatsächlich die Kinder vielleicht ein Stück weit dafür sorgen, dass die bisherige Leidenschaft abkühlt.
In diesem Fall hier ist das so, führt auch die Hysterie von Estelle dazu, dass Jack sich immer tiefer in seine Arbeit kniet. Da man in dem Fall aber nur die hysterische Estelle erlebt und nicht gespiegelt bekommt, wie Jack mit der Situation umgeht, wie er fühlt, ist das Thema „Ehe“ für mich nicht so attraktiv dargestellt.

c) Vermisste Kinder
Auch hier können die meisten von uns (glücklicherweise) eher nur mit Klischees arbeiten, mit den Klischees aus Real-Sendungen wie „Aktenzeichen XY“ oder mit denen aus anderen Romanen und Filmen. Sicher ist es das Schlimmste, das passieren kann, dass das eigene Kind verschwindet. Und ein Klischee ist dann auch, dass die Eltern (oder Menschen aus dem nahen Umfeld) mit der Tat zu tun haben. Es ist sicher doppelt schwer, wenn man gleichzeitig leidendes Elternteil ist, dass das eigene Kind vermisst und (zu Unrecht) Verdächtiger, der das Kind vielleicht selber getötet oder verschleppt hat. Genau das passiert Estelle, das ist ein gewisser „Reiz“ der Geschichte.
Estelle selber weiß (anfangs) nicht, ob sie vielleicht mit dem Verschwinden von Mia zu tun hat – denn sie hat mitunter Aggressionen gegen die ständig schreiende Tochter gehabt.


5. Thriller?
Für mich hat der Roman (zumindest nach 120 Seiten) wenig von einem Thriller: Ja, es sind zwei mysteriöse Dinge passiert, Mia ist verschwunden, Estelle hatte einen schlimmen Unfall – und man weiß nicht, ob Estelle oder vielleicht Jack etwas „im Schilde führt“? Für mich ist das aber nicht der typische Thriller mit unheimlichen Wendungen, mit Sorge um die Charaktere, mit Hochspannung.

6. Zielgruppe
Normalerweise finde ich diesen Punkt eher schwierig: Denn wer liest einen Krimi/Thriller am ehesten? Frauen/Männer, alte oder junge Leser? Anhaltspunkte liefern da manchmal – vielleicht – die Ermittler.
In diesem Fall ist für mich am ehesten die Kern-Zielgruppe: Mütter, besonders vielleicht Mütter von Babys, aber evtl. auch Mütter, die sich erinnern, wie schwierig ihr eigenes Kind als Baby war ...


7. Pro & Contra
Pro
- Thriller mal anders
- Lässt sich ordentlich weg lesen
Contra
- Estelle wirkt zu weinerlich
- Nicht das, was ich von einem Thriller erwarte
- Spannung fehlt
- Zu sehr aufs Mutterthema konzentriert

8. Fazit
Wenn man ein Buch sucht, das sich ganz locker weg lesen kann, sei es für den nächsten Urlaub oder für einen regnerischen Tag daheim auf der Couch, der ist mit „Remember Mia“ gut bedient. Das gilt vor allem für junge Mütter, die sich selber mal dabei ertappen, dass sie am Schreien ihrer Babys verzweifeln. „Remember Mia“ ist ein etwas anderer Thriller.
Aber: es ist auch ein Roman, der mir nicht das liefert, was ich von einem Thriller erwarte, die Spannung fehlt, es ist eher ein Familiendrama, das sich, für meinen Geschmack, zu sehr aufs Mutterthema konzentriert.
Ich vergebe daher nur drei Sterne und als Empfehlung ein „Vielleicht“.