Deutsche Zeitgeschichte, spannend und unterhaltend erzählt

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Nach dem Erfolg ihres Bestsellers „Bühlerhöhe“ (2016) über die Gründerjahre der westdeutschen Bundesrepublik um 1952 unter CDU-Kanzler Konrad Adenauer war eine Fortsetzung fast zwingend. Im Februar veröffentlichte nun Brigitte Glaser (64) ihren Roman „Rheinblick“ über die Situation 20 Jahre später, einen für heutige Leser historisch und politisch fast noch interessanteren Zeitabschnitt mit den Auswirkungen der 1968er Revolte der jugendlichen Nachkriegsgeneration und dem politischen Wandel unter SPD-Kanzler Willy Brandt.
„Bonn ist in den Tagen nach der Wahl ein brodelndes Durcheinander, es geht um Positionen und Posten, um Versprochenes und Verrat“, führt der Klappentext in die wieder recht spannende Handlung ein, die bei vielen älteren Lesern lebhafte Erinnerungen an eigene Jugendjahre wach werden lässt, den jüngeren ein lebendiges Bild der gesellschaftspolitischen Situation um das Jahr 1972 gibt. Willy Brandt, seit 1969 Bundeskanzler einer Koalitionsregierung mit der FDP, hatte gerade die Wahl gewonnen. Glaser beschreibt anschaulich und nachvollziehbar die Stimmung in Bonn – mit Gültigkeit für die gesamte Republik – sowohl in der Bevölkerung als auch auf politischer Ebene. Wir lernen Hilde Kessel kennen, die Wirtin des beliebten Lokals „Rheinblick“, in dem sich Minister und Abgeordnete aller Parteien, Mitarbeiter der Ministerien ebenso wie der „Mann von der Straße“ zum Mittagstisch oder zum abendlichen Umtrunk treffen. Neutralität ist für die Wirtin oberstes Gebot, doch kann auch sie am Ende nicht verhindern, in den Sog politischer Intrigen gezogen zu werden. Und wir lernen die junge Logopädin Sonja Engel kennen, die in der Behandlung des erkrankten Kanzlers eine Chance für ihre berufliche Karriere sieht. Brandt hatte sich während des erschöpfenden Wahlkampfs verausgabt um in der Wahlnacht seine Stimme verloren. Nun war er zur Behandlung in der Klinik auf dem Venusberg. Auch Sonja gerät aufgrund ihrer unmittelbaren Nähe zum Kanzler in den Strudel aus Machthunger und Verrat, während die SPD-Größen Horst Ehmke, Helmut Schmidt und Herbert Wehner im einsetzenden Koalitionspoker die Strippen ziehen. „Ich musste noch lernen, dass es auch in den eigenen Reihen Leute gibt, die …. Erfolg übelnehmen und kaum verzeihen“, zitiert Glaser zur Einführung einen Satz aus Willy Brandts „Erinnerungen“.
Wir erleben durch Glasers gut recherchierten und präzise erzählten Roman einerseits den spannenden Machtkampf im Bonner Regierungsviertel mit Intrigen, Verrat und Stimmenkauf. Auch der Name des später enttarnten DDR-Spions Guillaume erscheint in einem Nebensatz wie zufällig. Andererseits vermittelt uns die Autorin anhand ihrer so unterschiedlichen Protagonisten sehr plastisch den gesellschaftlichen Umbruch, die Spannung zwischen konservativen Elternhäusern und ihren in Wohngemeinschaften persönliche und sexuelle Freiheit suchenden Studenten-Kindern, verbunden mit der Gefahr des Abgleitens nicht weniger Jugendlicher in Drogenkonsum und Kriminalität.
„Rheinblick“ von Brigitte Glaser ist dank seiner vielschichtigen Handlung und der gut charakterisierten Figuren ein spannender Unterhaltungsroman, dem die erfahrene Handschrift der Krimi-Autorin anzumerken ist. Zugleich ist es aber auch ein sehr interessanter, für jüngere Leser sogar informativer politischer Roman, der sich zu lesen lohnt.