Einblick in die Bonner Republik zwischen Kölsch und WG

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Mit "Rheinblick" hat Brigitte Glaser ein Zeitbild der Bonner Republik in Zeiten voller Aufbruchshoffungen und zugleich das Porträt dreier Frauen gezeichnet. Beim "Rheinblick" handelt es sich um eine Kneipe mit rheinischer Gemütlichkeit, die von der schlagfertigen und ausgesprochen diskreten Wirtin Hilde Kessel mit Charme und Schnauze geführt wird. In unmittelbarer Nähe des Angeodnetenhauses gelegen, zieht der Rheinblick Politiker aller Parteien an - gewissermaßen eine große Koalition bei Kölsch und Rheinwein. Da ist so manches zu hören, doch Hilde weiß zu schweigen. Nur einmal hat sie sich, nicht zuletzt aus einer finanziellen Notlage hearus, zu einer Indiskretion hinreißen lassen und leidet nach wie vor darunter.

In Zeiten der heutigen Politikverdrossenheit liest sich vieles wie aus einem anderen Land, und ein bißchen war diese alte Bundesrepublik das ja auch. Es ist das Jahr 1972 und Willy Brandt ist gerade als Kanzler bestätigt worden. Die Ostpolitik der sozialliberalen Koalition hat verhärtete Fronten des Kalten Kriegs aufgeweicht, es herrscht zumindest unter den Anhängern Brandts eine hoffnungsvolle Aufbruchstimmung.

Nun gehen die Gespräche über die Regierungsbildung los, und ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt ist Brandt schwer indisponiert: Nach dem anstrengenden Wahlkampf und einer Haloperation ist seine Stimme buchstäblich weg, der Kanzler muss sich in der Klinik erholen und vor allem schonen, auch wenn sein Kanzleramtsminister Horst Ehmke im Krankenzimmer für Aufruhr sorgt und ein gewisser Helmut Schmidt mit einem Superministerium seine Machtposition ausbauen will.

Schwierige Lage für die Krankenschwester und Logopädin Sonja, die den Kanzler zu Atemübungen bewegen soll, aber nur schwer einen Zugang zu dem prominenten und schwierigen Patienten findet. Dabei hat Sonja genügend andere Sorgen - ihr jähzorniger Vater verprügelt ihre Mutter, der gealtsame Tod einer jungen, geheimnisvollen Patientin macht der jungen Frau zu schaffen.

Für das Schicksal der Toten, die sich selbst Sally Bowles nannte, interessiert sich auch die junge Journalistin, die zufällig in Sonjas WG landet und dort von dem toten Mädchen erfährt. Denn eigentlich soll die Reporterin einer kleinischen badischen Zeitung ein Porträt des neuen lokalen Bundestagsabgeordneten schreiben, eines gewissen Wolfgang Schäuble. Endlich mal ein Thema, das nichts mit "Kinder, Küche, Kirche" zu tun hat, und mit dem sich die junge Frau als ernstzunehmende Journalistin beweisen will.

Ein bißchen historischer Zeitgeist, ein bißchen Krimi, ein bißchen Klatsch aus der Welt der Politik, das macht die durchaus reizvolle Mischung von "Rheinblick" aus. Noch immer kämpfen die Jungen gegen "den Muff aus 1000 Jahren" - so viel hat die 68-er Generation denn doch noch nicht verändert und nicht nur in Sonjas WG müssen sich die Frauen mit Machogehabe und Küchendienstverweigerung auch der politbewegten Genossen herumärgern.

Vor allem Hilde, die nicht mehr ganz junge Witwe, die viele Höhen und Tiefen erlebt hat, ist eine intetessante Figur, während das Profil von Sonja und Lotti ein wenig blasser bleibt, Sympatischen Frauenfiguren sind alle drei und sind für den Leser wie eine Brücke in eine andere Zeit, als die große Politik noch in einer kleinen Stadt am Rhein gemacht wurde. Gut lesbar und sicher eine gute Empfehlung für alle, die sich für die Zeit von Willy Brandts Kanzlerschaft interessieren, vor reinen historischen Sachbüchern aber zurückschrecken. Deutlich auch mehr als eines der "Frauenbücher" mit ziemlich vorhersehbarem Verlauf.