Lebendige 70er

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keke Avatar

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Eingebettet in die politischen Geschehnisse nach dem Wahlsieg von Willy Brandt im Herbst 1972 und den sich daran anschließenden Koalitionsverhandlungen erzählt „Rheinblick“ im Wesentlichen die Geschichte zweier Frauen.

Da ist zum einen Hilde Kessel, die verwitwete, resolute Wirtin des „Rheinblick“, dem Lokal im Bonner Regierungsviertel, in dem die gesamte Politprominenz jeglicher Parteien ein und ausgeht. Aus diesem Grunde ist für Hilde Kessel Diskretion alles, denn Indiskretion wäre das Ende ihrer gut gehenden Gaststätte. Leider muss sie jedoch feststellen, dass einen das Leben manchmal zwingt, gegen seine Grundsätze zu verstoßen, denn ein finanzieller Engpass führt dazu, dass Hilde Interna aus der Politszene ausplaudert, um den Rheinblick vor dem Verkauf zu retten.
Zudem taucht ihr verflossener Geliebter wieder auf und reißt alte, kaum vernarbte Wunden wieder auf.

Zum anderen wird die Geschichte der angehenden Logopädin Sonja erzählt. Sonja, die wegen ihres gewalttätigen Vaters ihr Elternhaus verlassen hat, lebt in einer Bonner WG und arbeitet in der Uniklinik auf dem Venusberg. Eines Tages erhält sie den Auftrag, den Heilungsprozess von Willy Brandt, der sich einer Kehlkopfoperation unterziehen musste, logopädisch zu begleiten.

Mitten zwischen diesen beiden Geschichten dann ein Krimielement. Ein junges Mädchen in einer Heilsarmeeuniform wird auf einem Bonner Friedhof ermordet aufgefunden. Wer war die unbekannte Tote, die sich Sally Bowles nannte und die kurz vor ihrem Tod auf der Sonjas Station auf dem Venusberg eingeliefert wurde?

Nach der Beschreibung des Klappentextes und der Leseprobe hatte ich mich – selber als Kind teilweise in Bonn aufgewachsen und jegliche Lektüre, die in den 70er Jahren spielt, liebend – auf das Lesen des Buches gefreut und im Großen und Ganzen wurde ich nicht enttäuscht.


Wirklich gut gefallen hat mir die Figur der rührigen Wirtin Hilde Kessel, die sehr authentisch herüberkam. Im Rahmen der Geschichte um sie und ihr Lokal herum wurden auch die Atmosphäre sowie die Ränkespiele im politischen Bonn Anfang der 70er Jahre sehr gut und vor allem gut recherchiert geschildert. Allerdings kann es nicht schaden, wenn man hier als Leser einiges an Hintergrundwissen bereits mitbringt.

Ganz im Gegensatz dazu die Figur der Sonja. Ein Kind der Arbeiterklasse, aufgewachsen in einem Elternhaus, in dem der Vater durch seine Erlebnisse im Krieg zu einem Mann wurde, der Kinder und Frau schlug, strebte sie danach auf ein Gymnasium zu gehen, was ihr aber seitens des Vaters verwehrt wurde. Mit ihrer Geschichte lässt Brigitte Glaser eine andere Seite der 70er lebendig werden, nämlich die der konservativen Familien, in denen das einzige Bestreben darin bestand, nach außen den Schein zu wahren. So ist auch Sonja ein Kind ihrer Erziehung. Zurückhaltend, folgsam, ohne Durchsetzungsvermögen. Eigentlich als Gegenpol zu Hilde ein guter Schachzug der Autorin, aber im Handlungsstrang im die Erkrankung Brandts fand ich dann die ständigen vergeblichen Versuch Sonjas, endlich und wenn dann meist nur für ein paar Minuten zu ihrem Patienten durchzudringen, doch etwas langatmig zu lesen.

Auch blieb der ganze Handlungsstrang rund um die Erkrankung Brandts etwas hinter meinen Erwartungen zurück. Ich hätte mir hier mehr Einblicke in den Mensch Willy Brandt erwartet.

Für meinen Geschmack komplett fehl am Platz und meines Erachtens nur dazu da um dem Buch in der Buchvorstellung das Attribut „Krimi“ zu verpassen, wirkte für mich der Handlungsstrang um den Tod des jungen Mädchen.

Trotz dieser Kritikpunkte hat mir die Lektüre dieses Buches jedoch insgesamt großen Spaß gemacht, denn die Autorin hat es geschafft, in mir die 70er Jahre und das Gefühl der 70er wieder lebendig werden zu lassen. Da wurde die Politik ebenso lebendig wie kleine Alltagsdinge, wie die Trimm-Dich-Fit Bewegung, die Musik, Filme, die ersten alternativen Wohnformen ect. Auch das Bonn meiner Kindheit lebte wieder auf.

Fazit: Für alle Kinder der 70er und alle, die sich für diese Jahre interessieren ein absolut lesenswertes Buch!