Lebendige und spannende Zeitreise

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leukam Avatar

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Brigitte Glasers letzter historischer Roman“ Bühlerhöhe“ hat mir schon sehr gut gefallen, nicht nur, weil der Schauplatz in unmittelbarer Nähe zu meinem Wohnort liegt. So war ich voller Vorfreude auf ihr neues Buch, das 1972 spielt.
Das war innenpolitisch eine spannende Zeit: Aufbrauchstimmung im Land, das Misstrauensvotum gegen Willy Brandt, das letztendlich zu vorgezogenen Neuwahlen führte, die Gerüchte um gekaufte Stimmen.
Der Roman setzt ein mit dem überragenden Wahlerfolg der SPD ( dem größten Erfolg in ihrer Geschichte mit über 46% der Stimmen ), der Willy Brandt zum strahlenden Sieger machte. Nun stehen Koalitionsverhandlungen an, doch Brandt muss sich zuerst einer Operation an den Stimmbändern unterziehen und sich danach im Krankenhaus erholen. Ihm kommt dabei die Logopädin Sonja zu Hilfe. Sie soll den erkrankten Politiker mit Lockerungs - und Sprachübungen entspannen. Eine unmögliche Aufgabe in dieser politisch hoch erhitzten Zeit. Schließlich versuchen im Hintergrund Helmut Schmidt und Herbert Wehner ihre Machtposition auszubauen. Da ist es beinahe zwangsläufig, dass welche an die Logopädin herantreten, um an Hintergrundinformationen zu kommen.
Ein zweiter Erzählstrang führt in das titelgebende Lokal „ Rheinblick“. Hier verkehrt nicht nur die Bonner Politik- Prominenz, sondern auch Sekretärinnen, kleinere Beamte, Taxifahrer und Journalisten. Die Seele der Gaststätte ist Hilde Kessel, eine verwitwete Frau Mitte Vierzig. Sie hat ein offenes Herz und Ohr für alle, weiß bestens Bescheid über den neuesten Klatsch, die aktuellen Mauscheleien, aber Diskretion ist oberstes Gebot in ihrem Geschäft. Allerdings hat sie eine finanzielle Notlage gezwungen, kurz von Ihrem Prinzip abzuweichen. Außerdem trauert sie einer noch nicht ganz abgeschlossenen Affäre nach.
Auf einer weiteren Erzählebene begleiten wir die junge aufstrebende Lokalreporterin Lotti. Sie ist für die „Kehler Zeitung“ nach Bonn gereist, um ein Interview zu machen mit einem ehrgeizigen Abgeordneten aus dem badischen Offenburg, der auf Anhieb ein Direktmandat erhielt : Wolfgang Schäuble. Lotti wohnt während ihrer Zeit in der Bundeshauptstadt in einer WG, in der auch Sonja wohnt. Zu den anderen Mitbewohnern gehört Max, ein notorisch abgebrannter , Taxi fahrender Student und Kurt, strammer Kommunist, den Lotti aus dem Republikanischen Club aus Baden-Baden kennt.
Für Spannung sorgt noch ein totes Mädchen, das auf dem Friedhof , am Grab von Robert Schumann gefunden wurde.
„Rheinblick“ bietet also fesselnde Unterhaltungskost - ein bisschen Liebesroman, ein bisschen Krimi, alles angereichert mit gut recherchiertem Hintergrundwissen und jede Menge Lokalkolorit. Sehr gut hat Brigitte Glaser den Zeitgeist und die Atmosphäre der 1970er Jahre getroffen: Väter, die mit Härte das Familienleben dominieren, rebellierende Jugendliche, politische Diskussionen in Studentenkreisen, das Frauenbild in Politik und Gesellschaft. Die Figuren sind glaubhaft und lebendig, mit individuellen Biographien ausgestattet.
Wer sich für Zeitgeschichte interessiert und gleichzeitig eine unterhaltsame Erzählung lesen möchte, ist mit „Rheinblick“ bestens bedient. Mir hat es ausgesprochen gut gefallen, erzählt das Buch doch von der Zeit, in der mein politisches Bewusstsein erwachte und Willy Brandt ein Idol meiner Jugend war.