Leider nicht durchgehend fesselnd

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aennie Avatar

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Bonn, 1972. Die SPD ist der Gewinner der Bundestagswahl. 46% konnte die Partei um den charismatischen Kanzlerkandidaten Willy Brandt erreichen. Die Kampagne „Willy wählen“ hat die Menschen im Land, vor allem die junge Generation, bewegt und erreicht. Nun beginnt der erste große Kampf nach der Wahl. Nicht mehr der politische Gegner ist für die Konflikte „zuständig“, das Ringen um den Koalitionsvertrag und vor allem die Verteilung der Posten und Pöstchen bestimmt das Denken und Handeln auf der Politbühne.
Teil dieser Bühne ist das Lokal „Rheinblick“, das Wirtin Hilde Kessel mit rheinischer Gelassenheit nach dem Tod ihres Mannes alleine führt. Bei ihr sitzen sie alle am Tresen und beim Mittagstisch, und auch manchmal spät abends betrunken im Taxi nach Hause und manchmal hört Hilde Dinge, die sie am besten gar nicht hören würde. Noch nie hat sie ihren Vorteil aus ihrer „Vertrauensposition“ gezogen, wie der Priester im Beichtstuhl oder die rheinische Version von „what happens in Vegas, stays in Vegas“, ist sie sicherer verschwiegener Boden, zumindest denken das alle…
Im November 1972 geht es also hoch her im Rheinblick, denn unmittelbar nach der Wahl fällt die Hauptperson aus: Brandt muss sich im Klinikum auf dem Venusberg einer Stimmbandoperation unterziehen und hat Redeverbot. Schriftlich nimmt er an den nervenaufreibenden Verhandlungen teil, oder hofft es zumindest und ist angewiesen auf das, was ihm ins Krankenhauszimmer vermittelt wird. In dieser angespannten Situation ist es nicht gerade leicht für Logopädin Sonja Engel, den Kanzler zu Atemübungen zu überreden, insbesondere da ihr Cousin, MdB und möglicher Anwärter auf einen Posten im Kanzleramt, plötzlich an sie herantritt, mit der Bitte, ihre Veschwiegenheitsverpflichtung doch etwas flexibler auszulegen.
Sonja lebt in einer WG, deren Bewohner, den zweiten großen Personenblock im Roman ausmachen. Vier junge Menschen, außer Sonja alle Studenten, die den Schwung der Zeit, ein neues Lebensgefühl, eine neue Freiheit verspüren und leben. Jeder von ihnen mit seinen persönlichen Sorgen belastet, und doch wieder vereint mit auch ihren Verbindungen zum „Rheinblick“ und einem aktuellen Kriminalfall in Bonn, der insbesondere die Journalistin Lotti aus Baden, die vorübergehend bei ihnen unterkommt, beschäftigt.

Und leider hört sich das jetzt – sogar für mich in der Rückschau, während ich diese Rezension schreibe-, spannender an, als es tatsächlich im Roman ist. Ab einem gewissen Zeitpunkt zieht es sich doch sehr arg in die Länge. Grundsätzlich fand ich die Konzeption eigentlich sehr gut, die Studenten-WG, das Politlokal, der angeschlagene Kanzler und die ihn belagernden Genossen, um die Weichen für die neue Legislaturperiode zu stellen, allem voran glaube ich, (soweit ich mich traue, das einschätzen zu wollen, so als nicht Zeitzeugin) treffend eingefangen Zeitgeist verspürt zu haben.

Aber gerade mit einer der Hauptpersonen, der Logopädin Sonja, habe ich mich nie anfreunden können, will ich ihre Rolle fast überflüssig und – sinnlos? – fand. Ihre Anwesenheit auf dem Venusberg hat meiner Meinung nach so gar keine Auswirkung auf die Handlung an sich. Sie dient irgendwie mehr oder weniger nur als Bindeglied zur Studenten-WG, um den Handlungsstrang um Max und Lotti und den Kriminalfall einbinden zu können in das große Ganze und das hat mir irgendwie einfach nicht gefallen.

Dann habe ich auch leider noch einen Kritikpunkt zur Sprache, nicht im allgemeinen, sondern im sehr speziellen und persönlichen Empfinden. Denn insgesamt liest sich das Buch wunderbar und trotz der für mich zu konstatierenden inhaltlichen Längen ist es ein gut zu lesender, flüssiger Plot. Aber immer dann, wenn Hilde Kessel sprach, (oder eben nicht immer!!!) hat es mich leicht geschaudert. Die Autorin wollte der Wirtin einen zu ihr passenden rheinischen Zungenschlag verpassen. Es ist schwer bis unmöglich, Dialekt wirklich schriftlich treffend einzufangen, das ist mir auch klar. Aber: einen kompletten Satz in Hochdeutsch und dann einfach nur bei einem Wort den letzten Buchstaben weglassen – das wirkt dann immer mehr wie ein Tippfehler für mich, gerade wenn es im Satz noch zwei - drei andere, einfache!, Möglichkeiten gegeben hätte (z.B. im Stil von „er hätte es mit dir besprechen müsse.“ – „er hätt et mit dir bespreche müsse‘ wäre schon viel harmonischer und sicher nicht viel komplizierter umzusetzen gewesen. Mit anderen Worten in den drei Worten „na sischer dat“ des Taxiunternehmers lag für mich mehr Rheinland als in allen Hilde-Sätzen zusammen.

Toll fand ich tatsächlich den „Soundtrack“ zum Buch, jede der Kapitelüberschriften besteht aus einem Zitat aus einem Liedtext und im Anhang des Buches sind diese und weitere im laufenden Text genannte Lieder alle noch einmal aufgeführt. Also wer die Muse dazu hat, kann sich seine Playlist zur Lektüre zusammenstellen. Diese Idee fand ich sehr kreativ und bemerkenswert.

Fazit: gute Idee, sicher sehr gut recherchiert, mit sehr viel eingefangenem Zeitgeist – das ist die große Stärke des Romans. Aber insgesamt auch einige Schwächen, die dafür sorgen, dass zumindest ich nicht sehr begeistert bin.