Politisches und eigenes Erinnern.

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ilonar. Avatar

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Der Roman führt uns zurück in die ehemalige Hauptstadt Bonn und in den November 1972.
Willy Brandt hat mit der SPD ein Wahlergebnis errungen, das noch vor der CDU/CSU liegt, aber nicht die absolute Mehrheit darstellt. Somit muss über eine erneute Koalition mit der FDP verhandelt werden und mitten hinein in dieses Spannungsfeld siedelt Brigitte Glaser ihren Roman an.
Im Mittelpunkt der Handlung stehen zwei Frauen. Die eine ist die lebenserfahrene Hilde Kessel, als Wirtin des legendären Lokals RHEINBLICK eine Institution in der Stadt und ihre Gaststätte gilt hinsichtlich der unterschiedlichen politischen Lager als eine neutrale Zone. Mit Hilde kann man über alles reden, nur nicht über ihre eigenen politischen Neigungen.
Die andere Frau ist Sonja Engel, eine junge und ehrgeizige Logopädin, die vieles versucht um beruflich voranzukommen. Sonja bekommt die Aufgabe, sich ausschließlich um einen neuen und in der Öffentlichkeit stehenden Patienten mit Stimmbandproblemen zu kümmern. Ihr Patient ist niemand Geringerer als Willy Brandt, der allerdings vielmehr Zeit in seine politischen Aufgaben steckt als in die angeordneten Übungs- und Reha-Stunden mit Sonja. Der größte Teil des Tages ist für sie daher WARTEN. Während Sonja wartet, gehen die Parteigrößen bei Brandt ein und aus und wieder zurück in die Verhandlungen mit dem künftigen Koalitionspartner. Und Sonja hört Einiges, was für ihre Ohren nicht bestimmt ist.
Auch Hilde Kessel erfährt von ihren Gästen viele Einzelheiten aus dem Backstage-Bereich der politischen Bühne, aber nie würde es ihr einfallen, diese Informationen in irgendeiner Form zu verwenden. Und trotzdem wird immer wieder versucht, die beiden Frauen zu instrumentalisieren, denn beide haben Geheimnisse, die sie vielleicht sogar erpressbar machen.
Brigitte Glaser arbeitet sehr viel mit den realen Namen der damaligen Zeit, sei es aus der Politik, aus der Musikszene oder auch aus dem Lager der jungen Menschen, die in der Nachfolge der 68er aktiv werden wollen.
Das gibt dem Roman große Authentizität und steht damit auch für eine Form von Spannung, die nicht aus Aktionen entstammt, aber die Leser Seite um Seite weiter in die Ereignisse hineinzieht. Spektakuläres sucht man in diesem Roman vergeblich, trotzdem entfaltet sich ein Sog, der einen als Leser durch das Buch trägt und dem man sich kaum entziehen kann.
Ich möchte diesem Roman trotz gewisser Längen viele Leserinnen und Leser wünschen, die noch einmal in diese Zeit des politischen Umbruchs eintauchen wollen, vielleicht oder gerade auch weil dies die Jahre waren, in denen das eigene politische Interesse im Entstehen war und man sich entscheiden wollte. Unweigerlich geht damit auch eine Selbstreflektion der eigenen Jungend einher und das war allemal sehr spannend.

Für mich jedenfalls hat besonders dieser Aspekt das Buch so lesenswert gemacht.