Viel Zeitkolorit aus der Bonner Republik

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1972 fährt Willy Brandt für die SPD einen unerwartet hohen Wahlsieg ein. Brandt hat einen anstrengenden Wahlkampf geführt - und nach dem Sieg ist seine Stimme weg. Er muss in die Klinik. Und verschwindet dort für Wochen, während die Koalitionsverhandlungen beginnen. Und der Kampf um die Macht.

Soweit die historischen Fakten, Und hier setzte Brigitte Glaser mit ihrer fiktiven Geschichte an - die enorm viel über diese Zeit, die Bonner Republik und die damals vorhandene Aufbruchstimmung erzählt.

Die junge Krankenschwester Sonja ist auch als Logopädin ausgebildet. Aber leider ist die Logopädie damals noch keine richtig anerkannte Heilmethode. Sonja soll nun Willy Brandt bei der Genesung unterstützen. Und hoffentlich danach eine Stelle als Logopädin erhalten. Sie wird viel Zeit mit Warten verbringen - denn die Politik und die Machtspiele gehen vor. Aber das sind nicht Sonjas einzige Probleme. Sie hat eine gewalttätigen Vater, der ihre Mutter regelmäßig fast krankenhausreif schlägt. Aber die Mutter will nicht gehen - eine Scheidung ist zu der Zeit fast noch undenkbar. Aber Sonjas jüngere Schwester ist aus dem Elternhaus geflüchtet -- und zunächst untergetaucht. Halt findet Sonja in ihrer WG in Bonn. Hier werden neue Lebensformen ausprobiert. Wenn auch einiges noch nicht reibungslos funktioniert (der Kühlschrank ist doch oft leer und keiner geht einkaufen - außer Sonja), so genießt Sonja doch das Leben abseits ihres Elternhauses. Und die bunt gemischte WG. In diese platzt eines Tages die junge Journalistin Lotti, mehr aus Zufall. Sie kommt aus Süddeutschland, ist Tochter einer geschiedenen Mutter (was sie gar nicht lustig findet) und will aus dem Zentrum der Politik berichten. Und erfährt nebenher von einem ermordeten Mädchen, das in einer Uniform der Heilsarmee aufgefunden wurde. Dieses Mädchen kannte auch Sonja aus der Klinik. Und so begeben sie sich auf der Suche nach der Wahrheit - ein wenig Krimi ist also auch vorhanden. Unterstützt werden sie vom liebenswert-charmanten Max. Student der Geschichte, Frauentyp und immer pleite. Er fährt nebenher Taxi, um seine Finanzen aufzubessern. Und um unabhängiger von seinem sehr spießigen Elternhaus zu werden. Der Vater ist Beamter im Finanzministerium. Und die Mutter für Haushalt, Schnittchen und Käseigel zuständig.
Überhaupt: Das Frauenbild der damaligen Zeit wird gut dargestellt. Dieser Mief, diese Spießigkeit, die Einschränkung auf das Hausfrauendasein. Eigenständige Geschäftsfrauen sind selten. Und auch Hilde, die Wirtin der titelgebenden Gaststätte "Rheinblick" ist nur notgedrungen Alleininhaberin geworden, nachdem ihr Mann unerwartet und recht früh gestorben ist.

Im Rheinblick treffen sich alle. Politiker aller Parteien, Sekretärinnen, Taxifahrer - und Hildes wichtigstes Kapital ist ihre Diskretion. Aber auch Hilde hat geheime Wünsche und Gefühle. Aber vieles versagt sie sich - wie auch die anderen Frauen in diesem Buch.
Nur die jüngeren Frauen - sie suchen nach neuen Wegen. Nach mehr Eigenständigkeit, mehr Selbstbestimmtheit.


Und wenn man das Buch heute - im neuen Jahrtausend - liest, dann merkt man, dass die Frauen das auch geschafft haben. Heute gibt es viele erfolgreiche Politikerinnen und Geschäftsfrauen. Sicherlich noch nicht genug - aber der Weg wurde beschritten. Und damals, Anfang der 70er Jahre wurde er begonnen. Raus aus dem Mief, die Bildungsoffensive der SPD und die Auswirkungen der 68er haben doch Wirkung gezeigt.


Alleine deshalb lohnt sich die Lektüre. Vor allem aber auch wegen der liebevoll gezeichneten Charaktere, von denen mir der Abschied wirklich schwer fiel.