Die Fratze des Krieges

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igirl Avatar

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Die Geschichte konfrontiert uns Lesende schonungslos mit den Grausamkeiten des 2. Weltkriegs und der Nachkriegszeit, mit all seiner Härte und Entmenschlichung. Paula, die mehrsprachige Protagonistin mit deutsch-amerikanischen Wurzeln, arbeitet nach dem Krieg für die Amerikaner. Dabei gelangt sie über mehrere Stationen schließlich zurück nach Deutschland, um dort bei Verhören von Naziverbrechern mitzuwirken. Es geht um die Rolle der Drahtzieher des Grauens: Gehlen, Baun, Rauff, Wolff, Höß, Schacht und die Kriegsgewinnler: Dulles und die IG-Farben-Chefs - aber wie sieht es mit Paulas eigenem Vater und ihrer vermissten großen Liebe, Georg, aus? Und wer ist der mysteriöse Topagent 'Sieben'?

Paula ist eine unglaublich starke Frau, emanzipiert, integer und gleichzeitig durch ihre eigene Gefühlswelt zerrissen. Auf ihrem Weg durch ihr Vergangenheitsdunkel, in dem Schuld und Sühne verschmelzen, geht sie, zusammen mit ihrem amerikanischen Kollegen Sam (langjähriger Freund, jüdisch, integer) Schritt für Schritt in eine für sie mögliche Zukunft. Auf diesem Weg begegnen ihr viele beeindruckende Menschen, abscheuliche Menschen und Menschen mit vielen Gesichtern. Die Verhöre mit dem geheimnisumwobenen 'Sieben', einem potentiellen Topagenten, stürzt Paula in ein Netz von Vertrauen und Misstrauen, Wahrheit und Lüge. Dabei entpuppen sich Personen ihres bisherigen Umfelds als Überraschungspakete: darin kann sich ein wunderbar duftendes Parfum befinden oder ein entsetzlich stinkender Scheißhaufen.

Sehr stark geschildert fand ich die Beobachtungen Paulas während ihrer Überfahrt von Amerika, den emotionslosen Schilderungen der Kriegserlebnisse ihres Fahrers, ihren Empfindungen während der Verhöre und verschiedener Gespräche. Allegorisch beschreibt Paula immer wieder ihre Gefühle, anhand von 'entarteten' Bildern berühmter Maler. Dabei steht Otto Dix im Vordergrund. Ihre Schilderungen von Grausamkeit und Töten geraten zur Normalität, ja Bagatelle, als Beispiel ist hier der Gewaltexzess am toten Mussolini auf der Piazza in Mailand zu nennen. Jeder kleine Glücksmoment scheint durch das vorherrschende Grauen zerstört zu werden.

Der Sprachstil Andreas Pflügers ist erzählerisch stark, direkt, bildhaft und detailreich, um die Schrecken des Kriegs spürbar zu machen. Die Gefühlswelt Paulas ist teils gnadenlos hart, teils metaphorisch beschrieben – ihre Gefühle von Hass, Gefühllosigkeit, aber auch Vergebung konnte ich absolut nachempfinden. Immer wieder deutlich wird auch das vorherrschende Frauenbild in der Nachkriegszeit: nützlich und niedlich. Sehr gut gefallen hat mir, dass es am Ende des Buches Verweise zu den tatsächlichen Personen gibt. Dadurch wird die Unglaublichkeit der Schilderungen plötzlich nochmals sehr realitätsnah und wieder einmal bleibe ich kopfschüttelnd zurück, wie schon häufig bei Hintergründen zu diesem dunklen Thema.

Fazit: 'Ritchie Girl' ist ein fantastisch gut geschriebenes Buch gegen das Vergessen und für das Lernen aus der Vergangenheit für eine friedlichere Zukunft.