Die hässliche Kehrseite des amerikanischen Traums

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buecherfan.wit Avatar

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  Isaac English und Billy Poe sind Freunde seit der Schulzeit. Isaac ist hochintelligent, aber klein von Statur und eher schwächlich, Billy dagegen ist eine Sportskanone, ein Football Star zu High School-Zeiten. Beide hatten nach dem Schulabschluss glänzende Aussichten. Isaac wollte Astro-Physik studieren, Billy waren Sportstipendien von mehreren Universitäten angeboten worden. Aus unterschiedlichen Gründen haben beide ihre Chancen nicht genutzt und sitzen in der Kleinstadt Buell im Mon Valley in Pennsylvania fest, einem heruntergekommenen ehemaliges Zentrum der Stahlindustrie. Isaac kümmert sich seit dem Selbstmord der Mutter fünf Jahre zuvor um den pflegebedürftigen, tyrannischen Vater, Billy Poe lebt im Trailer seiner Mutter. Billy geht keiner Schlägerei aus dem Weg und hat schon einmal einen Jungen schwer verletzt.

Eines Tages hält es Isaac nicht mehr aus. Er stiehlt seinem Vater knapp 4000 Dollar und macht sich auf den Weg nach Kalifornien, um seinen Traum doch noch zu verwirklichen. Billy Poe begleitet ihn auf dem ersten Stück seines Wegs. Während eines schweren Unwetters kommt es zur Katastrophe. Isaac tötet in einer Fabrikruine in einer Notwehrsituation einen Obdachlosen, um seinen Freund zu retten.Einen Tag später bricht er auf, während Billy Poe wegen seiner Vorgeschichte verdächtigt und am nächsten Tag von Chief Harris verhaftet wird, weil einer der drei Obdachlosen ihn identifizieren konnte. Von da an geht es nur noch bergab. Billy Poe erlebt im staatlichen Gefängnis die Hölle, verliert fast sein Leben, verrät den Freund jedoch nicht. Isaac hat unterwegs eine Reihe von negativen Erlebnissen, leidet unter Hunger und Kälte, Gewalt und Verfolgung. Wird er sein Ziel erreichen?

 Philipp Meyers Roman “Rost” porträtiert Menschen in fast ausweglosen Situationen . Ein Teil der Figuren kann White Trash zugeordnet werden, der armen, unterprivilegierten Unterschicht. Für Menschen wie Billy Poe, seine Mutter Grace und den nichtsnutzigen Vater Virgil, einen Alkoholiker und Kleinkriminellen, ist der Begriff Trailer Trash geprägt worden. Den Menschen geht es so schlecht, weil es seit dem Niedergang der Stahlindustrie kaum noch Arbeitsplätze gibt - 150 000 gingen allein im Mon Valley verloren. Wenn sie doch einen Job finden, verdienen sie so wenig, dass sie davon nicht leben, ihre Häuser nicht erhalten können. Sie gehören zur Klasse der working poor. Für sie alle hat sich der amerikanische Traum nicht erfüllt, der besagt, dass dort jeder seinen Traum von Freiheit und materiellem Reichtum verwirklichen kann. Wer es nicht schafft, hat einfach nicht hart genug dafür gearbeitet. Philipp Meyer macht sehr deutlich, dass das so nicht stimmt.

Profitorientierte Industriebosse haben jeden Cent aus ihren Fabriken herausgepresst, nicht in innovative Technologien investiert, an Sicherheitsvorkehrungen gespart und damit das Leben ihrer Arbeiter aufs Spiel gesetzt und waren irgendwann international nicht mehr konkurrenzfähig. Indem sie den Ruin der Stahlindustrie billigend in Kauf nahmen, haben sie die Existenzgrundlage einer ganzen Region zerstört. Isaacs ältere Schwester Lee wird hier zum Sprachrohr des Autors: “Das Ganze war typisch amerikanisch - sich für Unglück selbst die Schuld zu geben -, dieser Widerwille, zu erkennen, dass dein Leben von sozialen Kräften mit beeinflusst wird, und diese Neigung, größere Probleme eher dem Individualverhalten zuzuschreiben. Hässlich, die Kehrseite des amerikanischen Traums.” (S. 296-297). So tragen letztlich die Besitzer des Stahlwerks die Schuld am Unglück der Familie English. Der schwere Unfall, durch den Henry English zum Pflegefall wird, der seine Frau ein paar Jahre später in den Selbstmord treibt und Isaac hindert, ans College zu gehen, ist ihnen anzulasten, aber sie müssen lediglich lächerliche 30.000 Dollar Strafe zahlen, obwohl zwei Arbeiter ums Leben gekommen sind. Meyers gesellschaftskritisches Anliegen ist hier und an vielen anderen Stellen des Romans klar erkennbar.

 “Rost” ist jedoch auch ein psychologischer Roman. Die Figuren durchlaufen einen Entwicklungsprozessprozess, stellen Werte und Normen in Frage und müssen sich mit den großen und kleinen Fehlentscheidungen ihres Lebens auseinandersetzen. Billy Poe bringt sich in der Fabrikhalle selbst in die lebensgefährliche Situation, weil er zu stolz ist, rechtzeitig aufzubrechen und so dem Konflikt aus dem Weg zu gehen. Seine Mutter hat Jahrzehnte gebraucht um zu erkennen, dass ihr Mann sie nur manipuliert, ausgenutzt und betrogen hat, dass es aber in Chief Harris jemand gibt, der sie liebt und der ihr und ihrem Sohn vor vielen Jahren einen Neuanfang in der Stadt ermöglichen wollte. Chief Harris bringt sich in Schwierigkeiten, weil er seinen Job mit viel Mitgefühl und Verständnis erledigt und schließlich alles riskiert für die Frau, die er liebt. Isaac muss sich fragen, wie lange er den Freund für eine Tat büßen lassen will, die er nicht begangen hat. Isaacs Schwester Lee hat Schuldgefühle, weil sie ihren jüngeren Bruder bei dem pflegebedürftigen Vater zurückgelassen hat, um egoistisch ihren eigenen Weg zu verfolgen. Wird sie einen Teil der Verantwortung übernehmen? Ihr Vater begreift, dass er Isaacs Lage mitverschuldet hat. Er muss Isaac sein Leben leben zu lassen. So ist “Rost” nicht düster ohne Hoffnung auf Besserung, sondern eine Geschichte über Schuld und Erlösung, die allein möglich ist durch unverbrüchliche Freundschaft und bedingungslose Liebe.

“Rost” ist kein Thriller und will auch gar keiner sein. Die Aufklärung des Tötungsdelikts geschieht eher nebenbei, zumal der Leser von Anfang an den Täter und die Tatumstände kennt. Seine Spannung bezieht der Roman jedenfalls nicht aus diesem Teil der Handlung, sondern eher aus seiner besonderen Struktur und Erzähltechnik. Erzählt wird aus ständig wechselnder Perspektive, und so sind auch die Kapitel überschrieben: Isaac, Poe, Lee, Grace, Harris und einmal, am Ende, auch Henry English. Der Autor macht sie jedoch nicht zu Ich-Erzählern, sondern bleibt bei der Erzählung in der dritten Person. Dennoch gewinnt der Leser auf diese Weise Einblick in die Gedanken und Gefühle dieser Figuren, die in Form des Bewusstseinsstroms (stream of consciousness) vermittelt werden. Besonders gut lernen wir durch ausführliche innere Monologe Isaac kennen, der von sich selbst in der dritten Person spricht und sich als “der Kleine” bezeichnet, andererseits aber auch die erste und zweite Person benutzt: “Steh auf. Na gut. Ich tu´s ja. Er stand auf.” (S. 347). Das mag anfangs verwirrend sein, bringt uns die Figuren jedoch sehr nahe.

“Rost” ist ein Roman, der lange nachwirkt - durch seine Figuren, ihr Schicksal, ihre Sehnsucht nach einem besseren Leben und nicht zuletzt durch das liebevolle Porträt einer (Fluss-) Landschaft, die sich von den Zerstörungen durch Menschenhand langsam erholt. Im Mittelpunkt steht der Fluss Monongahela - verkürzt Mon genannt - ein Ort von magischer Schönheit, aber auch der Ort, wo Isaacs Mutter in den Tod ging und Isaac von Poe gerettet wurde.