Akribisch recherchierter "Wider das Vergessen"-Roman

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2020 geht in die Geschichte ein. Soviel steht fest. Das öffentliche und soziale Leben bricht mehr oder weniger zusammen, es gibt auf einmal Millionen Hamster in Menschenform…Und das alles wegen eines kleinen, aber (leider) nachhaltig wirkenden Virus.

Wie gut, dass Leseratten die Möglichkeit haben, diesem Wahnsinn ein paar Stunden zu entfliehen – um sich mit dem nächsten Wahnsinn zu befassen.

Um so einen geht es nämlich in dem Roman „Rote Kreuze“ des jungen weißrussischen Schriftstellers und Journalisten Sasha Filipenko. Es ist sein erster auf Deutsch übersetzter Roman; vier weitere hat er schon veröffentlicht. Man darf gespannt sein, ob sie auch den Weg zu uns finden.

In „Rote Kreuze“ arbeitet Sasha Filipenko ein dunkles Kapitel der sowjetischen Geschichte auf. Es geht um (sowjetische) Kriegsgefangene im zweiten Weltkrieg, die von der eigenen Regierung im wahrsten Sinne des Wortes im Stich gelassen werden

„Wenn sich ein Krieger ergibt, dann ist er ein Feigling.“ (S. 72)

sowie die Unrechtbehandlung der Familienangehörigen selbiger. Alle diesbezüglichen Schreiben des Internationalen Roten Kreuzes an die sowjetische Regierung bleiben antwort- und entsprechend folgenlos. Sasha Filipenko hat hier akribisch recherchiert und geizt nicht mit dem Abdruck von Originalquellen in seinem Roman. Dem einen gefällt´s, die andere kann mit der Menge an gleichförmigen Schriftstücken nichts anfangen. Das ist okay – jede*r liest mit anderen Prioritäten und Interessen. Als Archivar kann ich indes von Originalquellen nicht genug bekommen – daher habe ich mich auch sehr gut „unterhalten“ gefühlt. Wobei Unterhaltung bei dem Thema recht schwierig ist. Es stellen sich eher Assoziationen wie „Wachrütteln“, „aufmerksam machen“ ein – ergo ist „Rote Kreuze“ ein „Wider das Vergessen“-Roman mit Gänsehautfaktor.

Es ist aber auch ein Roman über (falsche) Schuldgefühle über Jahrzehnte hinweg, über das Bewahren von Erinnerungen vor dem eigenen „Vergessen“ (Alzheimer/ Demenz), über den Verlust eines geliebten Menschen durch einen aggressiven Gehirntumor – Sasha Filipenko hat hier auf knapp 300 Seiten ein buntes Potpourri an Themen verarbeitet, was meines Erachtens nach gar nicht notwendig gewesen wäre, aber im Sinne der Dramatik wahrscheinlich unumgänglich war. Nun gut, sei´s drum. Das ist jammern auf höchstem Niveau und schmälert nicht meine Begeisterung für „Rote Kreuze“.

Für mich zählt „Rote Kreuze“ von Sasha Filipenko zu den eindrücklichsten Romanen 2020 und bekommt 5* und eine klare Leseempfehlung!

©kingofmusic