Aus der Vergangenheit lernen das Heute zu begreifen.

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geschwaetz Avatar

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Aus der Vergangenheit lernen das Heute zu begreifen.

Ein sehr gutes Buch. Ein sehr wichtiges Buch.
Weißrussland. Minsk.
Tatjana Alexejewna, 1910 geboren in London. Ihre Mutter, eine russische Ballerina, starb bei ihrer Geburt.
1920 zog ihr Vater mit ihr nach Minsk.
Ihre Diagnose Alzheimer steht hier stellvertretend für das schwindende kollektive Gedächtnis unserer Gesellschaft.
Sie erzählt dem neuen Nachbarn Alexander, einem jungen Mann, Mitte 30, Fussballschiedsrichter, ihre Lebensgeschichte.
Sie berichtet über ihre Kindheit, ihren Ehemann, ihre Arbeit im Schreibbüro des NKID, Volkskommissariat für Auswärtige Angelegenheiten, heutiges Außenministerium, über Stalin, wie dieser als großer Führer das Land regierte. Wir erfahren, wie wenig ein Menschenleben wert ist, wenn es sich nicht in die Ordnung der Staatsdoktrin hineinpressen lassen will.
Während des 2. Weltkrieges versuchte das Internationale Rote Kreuz immer wieder vergebelich Kontakt mit der Sowjetführung aufzunehmen, um Listen und sonstige Informationen über Kriegsgefangene auszutauschen. Soldaten der Roten Armee, die in Gefangenschaft gerieten, galten unter Stalin als Verräter und wurden entsprechend behandelt. Deren Ehefrauen wurden verhaftet und verurteilt. Sie kamen in Gefängnisse und in Lager. Deren Kinder wurden in Heimen zu guten Sowjetbürgern umerzogen.
All das setzt sich im genetischen Gedächtnis fest und prägt auch den Zustand einer ganzen Gesellschaft.
Wenn die Zeitzeugen aussterben, bleiben nur Dokumente übrig, aus dem sich niemals ein stimmiges Gesamtbild rekonstruieren lässt.
Und so ist dieser Roman eine unverhohlende Mahnung, aus der Geschichte, der Vergangenheit, für das eigene Leben, für die jetzige Zeit, eigene Schlüsse zu ziehen, um nicht in die Fallen diverser Propagandamaschinerien zu tappen. Der Autor beschreibt sehr treffend das genetische Gedächtnis, um das wir uns kümmern müssen.

Wenn Sasha Filipenko über Tatjana, die alte Frau, schreibt, liest sich sein Text gut und flüssig. Erzählt er über Alexander, den jungen Mann, klingt alles etwas unbeholfen und zu konstruiert.
Hätte der Autor Emotionen nicht nur erwähnt, sondern sie auch beschrieben, wäre Alexander authentischer gewesen.
Insgesamt ist der Roman zu unrund. Ich hatte das Gefühl, der Autor konnte sich nicht entscheiden, ob er sachlich schreibt, oder doch eher literarisch. Wenn auf einem Buch „Roman“ steht, erwarte ich Literatur und kein erzählendes Sachbuch.
Die vielen zitierten Dokumente sind sehr interessant, doch die Mehrheit von ihnen wäre im Anhang besser aufgehoben gewesen. Durch die Vielzahl sind sie im Text eher störend, weil dadurch der Rhythmus des Leseflusses verändert wird.