Dramatische Schicksale - im Gestern und Heute

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern
xirxe Avatar

Von

Der dreissigjährige Alexander ist nach einem schweren Schicksalsschlag mit seiner kleinen Tochter nach Minsk gezogen. Direkt beim Einzug lernt er seine Nachbarin kennen, die über 90jährige Tatjana, die ihm ungefragt ihre Lebensgeschichte aufdrängt. Widerwillig hört er ihr zu und ist doch völlig gefesselt von ihren dramatischen, schmerzlichen Erlebnissen, die sogar sein eigenes Leid etwas in den Hintergrund rücken lassen.
Dass die Zeit unter Stalin für viele Menschen eine Tragödie war, ist zwar bekannt, aber mehr oder weniger verdrängt bzw. vergessen. Stattdessen wird er in Russland wieder zu einer Kultfigur - der starke Mann, der Erlöser - und die Zahl seiner AnhängerInnen wächst. Gegen dieses Vergessen schreibt Sasha Filipenko an mit seinem Buch 'Rote Kreuze'. Glaubhaft und überzeugend zeigt er am Schicksal der mittlerweile an Alzheimer erkrankten Tatjana, wie völlig Unschuldige während des II. Weltkriegs wegen Nichts in Lager und Gefängnisse geschickt oder getötet wurden.
Die fiktive Geschichte dieser alten Dame, die vermutlich für die vieler anderer 'echter' Menschen steht, wird mit dokumentarischen Belegen wie den Briefen des Roten Kreuzes ergänzt, die versuchten, die russische Regierung zum Austausch von Kriegsgefangenen zu bewegen. Doch diese lehnte stets ab oder reagierte überhaupt nicht, denn für sie waren russische Kriegsgefangene Verräter, sonst wären sie nicht gefangen genommen worden - und was zählt schon ein Menschenleben?
Dass der junge Alexander, das Gegenüber im Heute von Tatjana, ebenfalls ein Schicksal aufweist, das für ein ganzes Buch reichen würde, ist mir fast zuviel des Guten (oder Schlechten). Ob der Autor damit zeigen wollte, dass kein Leid das einzige ist? Oder dass es immer noch Schlimmeres gibt? Was auch immer, es wäre nicht nötig gewesen.
Ungeachtet des traurigen Themas gibt es dank der unkonventionellen alten Dame immer wieder Stellen, die mich grinsen ließen. "Mademoiselle hat zu lange im vorsintflutlichen Russland gelebt, das als einzige Leistung für sich beanspruchen kann, die Zahl der Finger beim Bekreuzigen von zwei auf drei erhöht zu haben." Oder als Tatjana mit zehn Jahren 1920 nach Russland kommt: "Wie hätte es einem Kind im Land des zunehmenden Infantilismus auch nicht gefallen sollen?".
Ein schnörkelloser, sehr direkter Sprachstil und eine tragische Geschichte - auch wenn es etwas zu viel Dramatik gibt, ist dieses Buch sehr zu empfehlen.