Ein Teil russischer Zeitgeschichte

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Leerer Stern
miriam0000 Avatar

Von

Der 30-jährige Alexander hat einen schweren Schicksalsschlag hinter sich und zieht, um zu vergessen und Abstand zu gewinnen, mit seiner kleinen Tochter in eine neue Wohnung. Bereits am ersten Tag des Einzuges wird er von seiner an Alzheimer leidenden Nachbarin Tatjana mit deren Lebensgeschichte bedrängt. Zunächst entnervt, dann immer neugieriger, hört er ihr schließlich zu und lernt immer mehr über das Leben der alten Frau.

Rote Kreuze befasst sich mit einem Stück Zeitgeschichte, über die noch heute nur wenig gesprochen und viel mehr geschwiegen wird: Der Umgang mit russischen Kriegsgefangenen während des zweiten Weltkrieges. Wer dem Feind in die Hände fiel, galt automatisch als „Kriegsverbrecher“ und wurde von der Sowjetunion zurückgelassen. Auch die Familie galt automatisch als Landesverräter und wurde in Heime und Arbeitslager deportiert. Auf nur wenigen Seiten beschreibt der Autor diese Unglaublichkeit anhand des Schicksals der Familie von Tatjana. Besonders gelungen fand ich hier die Verknüpfung von historischen Zeitdokumenten in Form von Briefen – auch wenn hier ein paar weniger durchaus ausreichend gewesen wären – in Verbindung mit Tatjanas Vergangenheit und Alexanders Leben. Hinzu kommt die Beschreibung kleiner Alltagsschwierigkeiten, die durch den Fortlauf von Tatjanas Krankheit entstehen. Dadurch wird der Roman an keiner Stelle langweilig.

Trotz des großen Altersunterschiedes sind sich Tatjana und Alexander sehr ähnlich. Beide haben in ihrem Leben etwas sehr unterschiedlich Fruchtbares erlebt und versuchten, damit fertigzuwerden. Die Stärke von Tatjana hilft Alexander, mit seinem Schicksal umzugeben. Besonders gelungen ist dem Autor die Einbindung des Motiv des Kreuzes, welches nicht nur titelgebend ist: (Rote) Kreuze ziehen sich durch den ganzen Roman – sie kennzeichnen Gräber und Haustüren und stehen demnach nicht nur für den Tod, sondern auch gleichzeitig für die Erinnerung. Dabei handelt es sich nicht nur um die ganz persönliche Erinnerung von Tatjana, sondern auch um eine kollektive: Sasha Filipenko schreibt in Rote Kreuze ganz eindringlich gegen das Vergessen – bis heute wurde dieser Teil der Vergangenheit in keiner Art und Weise öffentlich aufgearbeitet, sondern wird bis heute verschwiegen.

Zunächst fiel es mir schwer, in den Roman reinzukommen: Sprachlich überzeugte mich der Roman erst wenig, da ich den Schreibstil als leicht flapsig und oberflächlich empfand. Mit der fortlaufenden Geschichte störte das jedoch immer weniger, da die das Spannende die Seiten nur so dahinfliegen lässt. Ein spannendes und unglaubliches Stück Zeitgeschichte!