Gegenwart als Brennglas der Erinnerung

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Kann ein Mensch, der auf den Mars fliegt, seine Vergangenheit hinter sich lassen? Eine Frage, die der Roman „Rote Kreuze“ von Sasha Filipenko zwar hypothetisch – es ist ja keine Science-Fiction – gegen Ende stellt, die dennoch ein wirkmächtiges Bild für den Umgang der Gesellschaft mit der Erinnerung darstellt. Das gilt gerade für die postsowjetische Gesellschaft, in der die Erzählung des jungen weißrussischen Autors angesiedelt ist. Der Erzähler, der in der Hauptstadt von Belarus in Minsk den Neuanfang sucht, trifft Anfang des 21. Jahrhunderts auf die alte Dame, die neben seiner neuen Wohnung lebt, und die weiß, dass sie keinen neuen Anfang mehr vor sich hat. Immer mehr verliert sie dank ihrer Krankheit Alzheimer das Bewusstsein für ihre Vergangenheit und ihr Bericht drängt aus ihr heraus. Wird der Erzähler zunächst nur widerwillig ihr Zuhörer, überrumpelt ihn bald die ergreifende Schilderung, so wie es der Roman auch mit dem Leser tut. Er denkt schon bald nicht mehr daran, sich zu wundern, warum er der alten Frau eigentlich zuhört, obwohl er doch mit sich selbst genügend zu tun hat. Später erfahren wir, dass auch er einiges durchgemacht hat. Auch er ist ein Mensch, der vor Entscheidungen gestellt wurde, die sich erst später als richtig oder falsch herausstellen. Sein Erzählstrang rückt dann aber doch sehr in den Hintergrund der Flut von Originaldokumenten und -eindrücken, die Filipenko hier auswertet und versammelt. Es geht in erster Linie um den Umgang der UdSSR mit den sowjetischen Kriegsgefangenen in den Lagern der Achsenmächte im Zweiten Weltkrieg. Sie werden zu Volksverräter und damit zu doppelten Opfern. Auf deren Schicksal weist der Roman hin und das ist wichtig in einer Zeit, in der die Erinnerung an die Stalinzeit sowohl in Belarus als auch in Russland immer mehr wieder überdeckt wird durch ein Narrativ, das den Ruhm der Sowjetunion feiert.
„Rote Kreuze“ ist ein Roman, der wichtig sein sollte und wichtig werden kann. Erstaunlich ist, wie der Autor in so einen doch vergleichsweise kurzen Text so viel hineinpackt, dass es trotz der schnellen Zeit, in der es erfasst ist, noch lange nicht verarbeitet ist und im Leser nachklingt. Es ist keiner der alten Romane, die episch breit den Weg und das Leben und eventuell die Flucht aus dem Lager auserzählt. Die Gegenwart dient als Brennglas für die Erinnerung, die schon allein deswegen so rasch erzählt werden muss, weil sie so vergänglich sein kann. Lieber Marsreisender, nimm diesen Roman mit auf in die Missionsbibliothek.