Gekratze an der Oberfläche

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laberlili Avatar

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Ich habe so gut wie gar keine Ahnung von russischer Geschichte, wenn man mal vom wohl gängigen Stalin-Wissen absieht und davon, dass es da mal eine Zarenfamilie gab, von der bis in dieses Jahrhundert hinein ständig irgendeine alte Frau (die auch häufiger mal wechselte) behauptete, die Tochter zu sein. Aber ich mag Bücher, in denen alte Menschen ihre Lebensgeschichten erzählen, und Vorschusslorbeeren gibt es für Bücher dieser Art, in dem alte Menschen aus anderen Ländern und Kulturen ihre Lebensgeschichte erzählen: Rein formal hätte ich „Rote Kreuze“ also lieben müssen, aber hier haperte es für mich ein wenig an der Umsetzung.
Gleich zu Beginn erging es mir wie Alexander, der sich offen fragte, warum seine Nachbarin ihm unvermittelt ihre Biografie zu erzählen begann: ja, warum denn eigentlich? Der Grund blieb bis zuletzt unbekannt und wie auch Alexander ließ ich mich halt einfach darauf ein und ließ Tatjana erzählen, aber dabei hatte ich die ganze Zeit über das Gefühl, dass Tatjana ebensogut mit der Wand hätte sprechen können. Ich hatte an nicht einer einzigen Stelle das Gefühl, dass eine echte Beziehung zwischen diesen beiden Figuren entstand geschweige denn dass sie sich überhaupt mal nur ein wenig annäherten. Schließlich erzählt Alexander auf Nachfrage hin, wieso er mit seinem Baby alleine ist und ja, das ist eine tragische Geschichte, die mir aber auch eher nebenher abgefrühstückt zu werden schien. Das hatte für mich etwas von „der Alex muss zwecks Daseinsberechtigung in diesem Buch halt auch mal was Krasses von sich erzählen, damit er nicht völlig unnütz zwischen den Zeilen rumsteht; toll, wenn da ebenfalls Verlust drin vorkommen sollte!“

Tatjanas Leben fand ich sehr interessant, aber ich muss zugeben, dass es mir in diesem Fall besser gefallen hätte, würde sie nicht am Lebensende von sich erzählt haben, solange sie sich nun noch erinnern konnte, sondern wäre ihre Geschichte hier nun von außen und zwar von Anfang an erzählt worden, und zudem ganz ohne Nachbarn. „Rote Kreuze“ ist ein diogenes-typisch handliches Buch; Tatjana ist alt und in sehr unruhigen Zeiten erwachsen geworden und mir war das häufig zu komprimiert, zu viele Infos auf relativ wenige Seiten gepresst, und klar, dass da keine besondere Tiefe erreicht werden konnte. Das fand ich schade, denn ich hatte mir da deutlich weniger Distanz zur Figur erhofft. So wirkte „Rote Kreuze“ auf mich allerdings doch eher nüchtern bis steif erzählt.
Was bleibt, ist allerdings ein wenig mehr Einblick in die russische Politikgeschichte des 20. Jahrhunderts – auch wenn er doch vergleichsweise oberflächlich bleibt, aber letztlich ist das doch der Aspekt, wegen dem ich „Rote Kreuze“ auch aufs Neue lesen würde, wenn ich es halt noch nicht kennen würde. Als Roman zum wiederholten Lesen sehe ich „Rote Kreuze“ allerdings nicht unbedingt an.