Geteiltes Leid ist halbes Leid

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"Spüren wir denn die Zeit, in der wir leben? Hat denn irgendjemand ein lückenloses Bild von der Welt?"

Nach einem schweren Schicksalsschlag zieht es den jungen Sascha mit seiner kleinen Tochter ins weit entfernte Minsk, in ein neues Leben. Nebenan lebt die 90-jährige Tatjana Alexejewna, die an Alzheimer erkrankt ist und ihre Geschichte mit Alexander teilen will. Erst denkt er, er habe selbst genug um die Ohren, aber bald schon erkennt er die Chance, sein Leid mit einer leiderprobten Frau zu teilen und ihr dabei ein wenig Linderung zu verschaffen. Denn Tatjana war 15 Jahre lang in sowjetischer Lagerhaft, weil ihr Mann im Zweiten Weltkrieg in rumänische Kriegsgefangenschaft geraten ist.

Sasha Filipenko beschäftigt sich mit einem düsteren Kapitel der düsteren sowjetischen Vergangenheit. Man weiß ja schon viel, und vieles wurde auch schon literarisch verarbeitet - großflächige Säuberungsaktionen, Deportationen an den Rand der Welt, die Lubjanka. Filipenko widmet sich dem Schicksal derer, die das Pech hatten, mit einem Kriegsgefangenen verheiratet oder verwandt zu sein. Denn laut sowjetischer Propaganda waren alle Kriegsgefangenen Vaterlandsverräter. Ein guter Soldat hätte sich schließlich gar nicht erst festnehmen, sondern sich lieber standesrechtlich erschießen lassen.

Tatjana hatte das Glück - oder das Pech? - im Außenministerium zu arbeiten. Dort gingen wichtige Dokumente durch ihre Hand. Unter anderem eine Liste mit Kriegsgefangenen, auf der sie den Namen ihres Mannes fand. Was sie dann tat, verfolgt sie ihr Leben lang. Filipenko erzählt geschickt und ohne viele Worte von Tatjanas Vergangenheit, die in London anfing und dann in die Sowjetunion, aber auch immer wieder nach Europa führte. Er schildert ohne viel Gefühlsduselei den Horror der alltäglichen Angst, die Willkür der Staatsmacht, die schizophrene Mentalität in der Sowjetunion, die jeden normalen Menschen verrückt machen musste. Meistens ist es Tatjana, die aus ihrem Leben erzählt. Oft baut der Autor aber auch Originaldokumente in den Text ein, die Tatjana übersetzen oder abtippen muss. Bis zu einem gewissen Grad hat das gut in die Geschichte gepasst, aber gerade zum Ende hin, als Tatjana in einem Schweizer Archiv Dutzende Vermerke des Roten Kreuzes zu Art und Status von Briefen an die Sowjetunion wälzt und diese über mehrere Seiten haargenau abgedruckt sind, war es mir zu viel. Ich habe diese Seiten so gut wie vollständig übersprungen. Das hat der Geschichte auf den letzten Metern ein wenig die Puste genommen. Schade eigentlich, da der Autor durch die Begegnung Tatjanas mit dem Mann, mit dessen Namen sie vor Jahrzehnten den ihres Mannes ersetzt hat, ganz neue Gewissens- und Schuldfragen auslöst. Das hat er sehr geschickt gemacht, denn die Konstellation ist komplex, und man hat noch einige Zeit daran zu knabbern.

Ein Hauptfaktor der Geschichte ist natürlich Sascha, der der alten Dame zuerst nur widerstrebend zuhört, dann aber immer interessierter ist und schließlich zu einem echten Freund wird. Er begleitet Tatjana auf ihrem letzten Weg, erfüllt ihr den letzten Wunsch und leiht ihr einfach sein Ohr, damit die Geschichte der Angst und der Hoffnung in ihm weiterleben kann. Sascha selbst hat einen harten Schicksalsschlag hinter sich, den er nur sehr ungern zum Thema macht, aber Tatjanas Leid und ihre Offenheit bestärken ihn darin, sich ihr anzuvertrauen. So erfahren wir auch noch ein bisschen was über Sascha, ohne dass er zu viel Raum einnimmt. Und auch seine Geschichte ist alles andere als gewöhnlich.

Ohne viel Kitsch und Herzschmerz, eher platonisch und durch die vielen verschiedenen "Roten Kreuze" sehr symbolbeladen, erzählt Filipenko die Geschichte einer kurzen, aber intensiven Freundschaft. Er zeigt, dass durch Gespräche manches Leid erträglicher wird, denn geteiltes Leid ist halbes Leid. Und immer ist da ein Augenzwinkern hinter all der Tragik.