Literarisches Werk? Eher eine journalistische Leistung.

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Dieser erste Roman von Sasha Filipenko erzählt hauptsächlich die Lebensgeschichte einer 1909 geborenen Russin, Tatjana, die besonders unter der Herrschaft Stalins zu leiden hatte. Die Handlung wird jedoch aus dem Jahre 2000 heraus erzählt, indem die alternde Dame mit Alzheimer Demenz ungefragt ihrem neuen Nachbarn größtenteils an den ersten beiden Tagen deren Bekanntschaft erzählt. Auch der junge Mann, Alexander gen. Sascha, erzählt ihr sehr offen von seinen traumatischen Erlebnissen.

Da ist schon eine Schwachstelle des Romans. Hier erzählen sich Wildfremde die intimsten Lebensereignisse, gefühlt zwischen Tür und Angel. Von der im Klappentext benannten "unerwarteten Freundschaft", würde ich nicht sprechen. Auch die gefühlsduselige Beschreibung "Nach und nach erkennen die beiden ineinander das eigene gebrochene Herz wieder..." passt aus meiner Sicht überhaupt nicht zu dem vorliegenden Roman. Zwischen den beiden Protagonisten entsteht leider kaum eine dyadische Kommunikation, sondern vielmehr zwei Monologe, die aufeinander treffen. Gefühle kommen da nur wenige auf. Sowohl scheinbar zwischen den Protagonisten als auch beim Leser. Dafür sind die Schilderungen viel zu jounalistisch, neutral, aufzählend gehalten. Letztendlich weiß man gar nicht mehr, wofür die Figur des Alexander überhaupt unbedingt gebraucht wurde. Die Thematik des stalinistischen Terrors und dessen zunehmendes Vergessen hätte der Autor auch ohne das Vehikel des Alexanders erzählen können. Dann hätte er auch vielleicht mehr Zeit darauf verwandt die Figur bzw. die Geschichte Tatjanas besser auszuführen. Denn gerade die erste Hälfte des Buches ist ein wilder Ritt durch die Zeiten, ohne jegliche Empathie aufkommen zu lassen.

Insgesamt bin ich enttäuscht von der Lektüre. Da wünsche ich mir die backsteinhaften, russischen Wälzer zurück, die entsprechendes Mitgefühl mit den Protagonisten und eine logische Herleitung der Geschehnisse erlaubten. Oder einfach Julian Barnes mit seinem Meisterwerk "Der Lärm der Zeit". Der kann die Thematik nämlich auch auf wenigen Seiten literarisch gelungen rüberbringen. Also: Eine sehr gute journalistische Leistung, als Roman jedoch nicht befriedigend.