Rasante Lebensgeschichte in zeiten des Stalin-Terrors

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bücherhexle Avatar

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Alexander ist ein junger Mann, der sein altes Leben ein Stück weit hinter sich lassen und neu anfangen will. Zu diesem Zweck bezieht er eine neue Wohnung. Direkt neben ihm lebt die 91-jährige Tatjana. Sie drängt sich ihm zunächst auf, kokettiert mit ihrer Demenzerkrankung und lädt ihn auf eine Tasse Tee zu sich ein. Was zunächst holprig beginnt, fängt Alexander an in Bann zu ziehen: Denn die alte Dame möchte unbedingt ihr Leben und dessen tragische Ereignisse loswerden, bevor sie dem Vergessen anheim fallen: „Ja, das wird alles schnell zu Ende gehen… In einem Monat oder zwei… Sehr bald wird von mir, meinem Schicksal, nichts übrig sein. Denn Gott verwischt die Spuren.“ (S. 13)

Tatjana verbrachte ihre ersten Lebensjahre in London, Moskau und Genf, bis sie 1929 in Moskau ein Studium beginnt. Ihr Vater war ein idealistischer Kommunist und Geschäftsmann. Dieser Tatsache hat sie es zu verdanken, dass sie eine Stelle als Übersetzerin und Sekretärin im Volkskommissariat für Auswärtige Angelegenheiten (NKID) bekommt. Sie genießt die aufregende Arbeit. Schließlich verliebt sich sich in Ljoschka, heiratet ihn und bekommt eine Tochter, Assja. Wa s Tatjana dann erzählt, über die (Vor-)Kriegsjahre, über das Leben unter Stalin, über die Säuberungen und Verhaftungen klingt schier unglaublich: „Na ja, ich sag Ihnen doch, sie haben ihn nicht verhaftet. Solche Jahre waren das – die Jahre des großen Terrors, aber damit auch die Jahre der glücklichen Fügungen.“ (S. 44) Jeder verdächtigt jeden. Tatjana und ihr Mann sind schon aufgrund ihrer westeuropäischen Geburtsorte potentielle Spione, beide müssen sich hüten aufzufallen. Als Deutschland 1941 in Russland einmarschiert, muss Ljoschka an die Front. Nur zwei Briefe erreichen seine Frau, die erst in den 80er Jahren Sicherheit über seinen Verbleib bekommt.

Während des Krieges arbeitet Tatjana weiter beim NKID. Vertraulichste Dokumente gehen über ihren Schreibtisch. Eines Tages erhält sie eine Liste mit in rumänische Gefangenschaft geratenen russischen Soldaten und entdeckt darauf den Namen ihres Mannes. Freude wird von Angst verdrängt: Kriegsgefangene gelten unter Stalin als Volksfeinde und Verräter. Nicht nur haben sie keine Hilfe ihres Heimatlandes zu erwarten, sondern auch ihre Familien geraten in Sippenhaft, werden gefangen genommen oder in Arbeitslager verschickt, die für Tausende Menschen den sicheren Tod bedeuten. Vor diesem Hintergrund trifft Tatjana eine Entscheidung, die ihr gesamtes weiteres Leben beeinflussen wird…

Was Tatjana in Folge erlebt, ist unglaublich. Es liest sich spannend wie ein Krimi. Filipenko hat seine Geschichte gründlich recherchiert. Er fügt zahlreiche Originalquellen und Briefe ein, die die drakonischen Maßnahmen der russischen Regierung belegen. Dem Roten Kreuz kommt dabei besondere Bedeutung zu, schließlich hat sich diese Organisation stets um die humanitäre Versorgung von Kriegsgefangenen und deren Austausch bemüht. Das Symbol des Kreuzes durchzieht den gesamten Roman.

Auch Alexander ist eine zutiefst verletzte Seele. Jung an Jahren hat er bereits einen schweren Schicksalsschlag verkraften müssen. Vielleicht ist das, was die beiden ungleichen Nachbarn verbindet, was Verständnis füreinander schafft.

Ich habe diesen Roman regelrecht verschlungen. Er hat mein spärliches Wissen über das Stalinistische Russland aufgefrischt und ergänzt. Er hat mich gefangen genommen, in eine vergangene Zeit entführt. Gerade das Ende hält noch überraschende, dramatische, berührende Wendungen bereit, die zum rasant-spannenden Stil der Lektüre passen. Erschreckend ist, dass die Aufklärung der eigenen Geschichte nach der Regentschaft Boris Jelzins wieder ins Stocken gekommen ist. Noch heute scheint es einige ewig Gestrige zu geben, die die vielen Verfolgungen, Hinrichtungen und Gefangennahmen mit einem saloppen „selbst schuld“ abtun. Insofern hat Filipenko einen wichtigen Roman gegen das Vergessen geschrieben, dem ich eine große Aufmerksamkeit wünsche.

Warum kein fünfter Stern? Meine Kritikpunkte betreffen die etwas überbordende Dramaturgie an Stellen, wo es nicht nötig gewesen wäre. Ich nehme der 91-jährigen Seniorin zum Beispiel ihre kokette Alzheimer-Erkrankung nicht ab. Dazu erinnert sie sich zu akribisch an Orte, Daten und Fakten ihrer bewegten Vergangenheit. Auch Alexanders Schicksal war mir persönlich etwas zu heftig, etwas zu plakativ… Aber in Summe ist das „Jammern auf hohem Niveau“ und zahlreiche Leser/innen werden das vermutlich anders beurteilen.
Ob nun vier oder fünf Lesesterne: Leute, lest dieses Buch! Es lohnt sich!