Unrecht und Vergessen

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petris Avatar

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Minsk, Weißrussland. Ein Wohnhaus. Alexander, ein junger Vater, hat gerade den Vertrag für eine Wohnung unterschrieben. Da fällt ihm ein rotes Kreuz auf seiner Türe auf. Er wundert sich. Doch schnell gibt es eine Erklärung, sein Nachbarin, Tatjana Alexejewna, über neunzig und an Alzheimer erkrankt, hat die Türe markiert, um ihre eigene Wohnung zu finden.

Alexander hat vor kurzer Zeit seine große Liebe verloren, steht alleine da mit einem Baby und muss sich erst neu sortieren. Die aufdringliche alte Nachbarin, die ihn ständig zum Tee einlädt und aus ihrem Leben erzählt, ist ihm am Anfang lästig. Doch nach und nach entwickelt sich eine Freundschaft und wir erfahren immer mehr aus dem tragischen Leben Tatjanas. Wie so viele wurde sie Opfer des Stalin-Terrors, viele Jahre saß sie im Lager und wusste nicht, was mit ihrem Mann und ihrer Tochter war. Ungläubige Atheistin, die sie war, begann sie im Lager, an Gott zu glauben oder besser gesagt sich ihn auszudenken, um ihn mit all dem Leid, all dem Unrecht, das ihr widerfahren und das sie gesehen hat, im Angesicht des Todes zu konfrontieren.
„Aber jetzt, wo in meinem Leben alles vorbei ist … jetzt denkt sich Gott, dieser von mir erdachte Gott, für mich Alzheimer aus, weil er Angst hat! Er hat Angst, mir in die Augen zu schauen! Er will, dass ich alles vergesse.“ S. 197
Doch auch Alexander hat das Leben schwer mitgespielt. Und so freunden sich die beiden an und sind sich vielleicht sogar gegenseitig Stütze.

Stellenweise ist nur schwer auszuhalten, was hier erzählt wird, die Willkür des Stalin-Staates war einfach unfassbar, so viele Tote, so viele zerrissene Familien, so viel Leid. Man weiß zwar davon, aber es am Schicksal einer Frau erzählt zu bekommen, macht es nochmal greifbarer und realistischer. Was für ein Unrechtsstaat.

Sasha Filipenko erzählt diese Geschichte in unaufgeregter, schlichter Sprache. Er weidet sich nicht an den Grausamkeiten des Regimes oder wie in Alexanders Fall des ungerechten Schicksals, er erzählt einfach, lässt seine Figuren sprechen. Auf alle Fälle hat mich dieser Roman (der erste von vier, der auf Deutsch erschienen ist) auf den weißrussischen Autor, der auf Russisch schreibt, aufmerksam gemacht. Ein hochinteressantes, sehr dramatisches Kapitel der Menschheitsgeschichte verpackt in einen berührenden Roman.

Ein starkes Debut, das auf interessante weitere Romane hoffen lässt.