Vermeintlich alte Schuld

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Tatjana Alexejewna dachte, sie hätte vor 30 Jahren einen Mann in den Tod geschickt, indem sie ihren eigenen Ehemann aus einer quasi Todesliste löschte. Diese Schuld verfolgte sie in die eigene Verhaftung und ins Straflager hinein. Nun ist sie 90 und alzheimerkrank. Ihre gesamte Familie ist in der Stalinzeit umgekommen. Es gibt vieles, das sie jahrzehntelang gequält hat und das sie jetzt ihrem neuen Wohnungsnachbarn Alexander erzählt. Denn das Langzeitgedächtnis funktioniert noch gut.

Ich hätte mir gewünscht, etwas mehr vom jungen Mann und seiner Familie zu erfahren. Doch auch so ist dieser Roman ein wichtiges Zeitzeugnis einer Welt, die uns meist wenig bekannt ist, die Russlands in den Nachkriegsjahren, aber auch ein wenig der heutigen Zeit.

Viel Schockierendes wurde bereits von Alexander Solschenizyn aus dem GULAG erzählt. Dieser Bericht ergänzt ihn beinahe nahtlos. Die grosse Tragik des Inhalts besteht darin, dass das Rote Kreuz sich bemüht hat, Nachrichten zu übermitteln und den Gefangenenaustausch voranzutreiben, dass aber Molotow jede Beantwortung der Gesuche verbot. Und dass sich der Staat bis heute bemüht, alle Erinnerungen an die furchtbare Zeit auszulöschen.

Der Text ist zwar zügig geschrieben und durchaus ansprechend mit fremdartig klingender Lyrik durchsetzt. Doch die kursiv gesetzten Stellen verleiten zum Querlesen, besonders die angeführten Briefe und Telegramme. Doch ist es ein sehr nahegehender Roman, von Ruth Altenhofer in ein modernes, lebendiges Deutsch übersetzt. Und das ist nicht unwichtig.

Auf den letzten Seiten ist ein Interview mit Sasha Filipenko wiedergegeben. Er erklärt, wie er seine Recherchen vorangetrieben hat und wie weit seine eigene Grossmutter als Vorbild und Modell gedient hat.

Ein Buch, das all jenen gefallen wird, die sich gern etwas tiefer über die Geschichte Europas begeben.