Im Takt der Gezeiten

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lemmi Avatar

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„Die Wahrheit, so es denn eine gibt, hat sich im Schoße des Meeres aufgelöst wie die vom Lauf der Gezeiten zerfaserten Algen“. Dieses Zitat, aus dem atmosphärisch dichten Werk von Hélène Gestern feinfühlig übersetzt von Brigitte Große und Patricia Klobusiczky, umreißt das zentrale Thema dieses Buches.

Der desillusionierte Geschichtsprofessor Yann de Kérambrun kehrt nach dem Tod seines übermächtigen Vaters in das Stammhaus der Familie an der rauhen bretonischen Küste zurück. Als einziger Hinterbliebener ist es für ihn an der Zeit seine emotionalen Altlasten hinter sich zu lassen. Doch beim Durchsehen seines Erbes stößt er, völlig unverhofft, auf ein reichhaltiges Archiv. So wie die auflaufende Flut die Priele am Strand füllt, lernt Yann nun sich und Generationen seiner Familie erst richtig kennen und damit auch die Untiefen in deren Leben. Alles ist eng verknüpft mit dem Meer, besonders die vorgelagerte Insel Cézembre scheint mit einigen dunklen Geheimnissen der Familie in Verbindung zu stehen.

Wer schon einmal in der Bretagne, an einem stürmischen Tag mit Salz auf den Lippen, nahe den Klippen stand, weiß um die Wucht des Wassers. Diese Vibrationen spürt man bis in die Knochen, das Meer ist wild und schert sich nicht um die Nöte der Menschen. Dies wird ebenso authentisch beschrieben wie die Personen, die in dieser vielschichtigen Familiensaga auftauchen mit all ihren Hoffnungen, Nöten und Schicksalen. Eine gutsituierte Familie, die eigentlich „alle Voraussetzungen zum Glücklichsein hatte“ (Zitat).

Wer das Meer liebt und gerne in historische Familiengeschichten stöbert, dürfte an diesem Buch seine helle Freude haben. Im Herbst oder Winter, eingekuschelt in eine gemütliche Leseecke, entfaltet dieses wortgewaltige Werk seinen besonderen Charme. Es ist nichts für eilige Leser, man sollte sich dem fließenden Rhythmus der Zeilen anpassen, dann kann man tief in die ruhige Stimmung eintauchen.

Mir hat die "Rückkehr nach St. Malo" viele schöne Stunden geschenkt und nach dem letzten Kapitel träumte ich mich an den bretonischen Strand, genoss den salzigen Wind und verstand.