Intensive Spurensuche

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Héléne Gestern, Jahrgang 1971, ist eine französische Schriftstellerin und Literaturdozentin. Nach „ Der Duft des Waldes“ ist dies ihr zweiter auf Deutsch erschienener Roman. Auch hier spielen wieder alte Photographien und Recherchen in Archiven eine wichtige Rolle.
Hauptfigur und Ich- Erzähler Yann de Kérambrun, ein knapp fünfzigjähriger Geschichtsprofessor, kehrt zwei Jahre nach dem Tod seines Vaters in das Familienanwesen nach Saint-Malo zurück. Nach der Scheidung von seiner Frau braucht er eine Auszeit; die Ruhe hier an der bretonischen Küste soll ihm den nötigen Abstand geben. Das Haus ruft Erinnerungen an seine Kindheit hervor, an unbeschwerte Sommer am Meer, gemeinsam mit seinem mittlerweile verstorbenen Zwillingsbruder.
Im Büro seines Vaters stößt Yann auf die Archive des Familienunternehmens, auf alte Konten- und Notizbücher seines Urgroßvaters Octave. Dieser, ein visionärer Maschinenbauingenieur, war fasziniert von dem technischen Fortschritt und hatte den Ehrgeiz, sichere und schnelle Schiffe zu bauen. So legte er zu Beginn des 20. Jahrhunderts den Grundstein für eine expandierende Reederei, die bis heute im Familienbesitz ist.
Yann selbst wollte als junger Mann nichts mit dem Familienbetrieb zu tun haben, was das Verhältnis zu seinem dominanten Vater zusätzlich belastete.
Je tiefer Yann in die familiäre Vergangenheit eintaucht, desto mehr Fragen stellen sich ihm. Und am Ende kommt er nicht nur einem Familiengeheimnis auf die Spur, sondern kann auch Frieden schließen mit seinem Vater.
Hélène Gestern lässt sich Zeit für ihre Geschichte. Bis ins Detail gehend lässt sie den Lesenden an Yanns Recherchearbeit teilhaben, die über das familieneigene Archiv hinausführt. Dabei bekommt man nicht nur einen intimen Einblick in familiäre Konflikte, sondern auch in betriebliche Abläufe.
Gleichzeitig erleben wir den Heilungsprozess eines Mannes in der Krise. War der Ich- Erzähler bei seiner Ankunft noch erschöpft und verzweifelt, wusste nicht, wie es weitergehen soll, so kann er nach diesem Jahr in St. Malo wieder offen nach vorne schauen. Dazu beigetragen hat sicher auch die Begegnung mit einer Frau.
Aber auch das Meer hat eine wesentliche Rolle für seine Gesundung gespielt. Es fordert ihn heraus, schenkt ihm Kraft und Ruhe. Wie die Autorin das Meer und die Küstenlandschaft beschreibt, ist Nature Writing vom Feinsten. Hier werden alle Sinne des Lesers angesprochen.
Der Originaltitel des Romans lautet „ Cézembre“, wie die kleine Insel im Ärmelkanal, nordwestlich von Saint-Malo, „ diesem Gesteinsbrocken, der je nachdem Paradies oder Hölle gewesen war, Schlachtfeld oder Heiligtum, Festung oder Friedhof.“
Beim Blick aus dem Fenster hat Yann dieses Eiland täglich vor Augen, und für seine Familie, aber auch für die Weltgeschichte, hat Cézembre eine wichtige Rolle gespielt. Lebten früher Einsiedler dort, später Mönche, so wurde im 19. Jahrhundert die Insel zur Festung ausgebaut. Diese Festung war im Zweiten Weltkrieg Teil des Atlantikwalls und auf Cézembre waren deutsche Soldaten stationiert. Nachdem Saint-Malo von den Alliierten eingenommen war, wurde die Insel Ziel intensiver Luftangriffe. Cézembre war eine der am stärksten bombardierten Orte im Zweiten Weltkrieg, weshalb sie danach jahrzehntelang für Besucher gesperrt war.
Kursiv gedruckte Passagen, immer wieder im Text verstreut, erzählen von Menschen, die einst auf der Insel lebten, von Mönchen, Sträflingen und Soldaten. Kursiv gedruckt kommen aber auch Familienmitglieder aus der Vergangenheit zu Wort.
So wechselt die Autorin gekonnt die Zeiten und die Perspektiven, was dem Roman zusätzliche Tiefe gibt.
Hèléne Gestern überzeugt mit literarischer Virtuosität, mit einer wunderschönen Sprache, die die Faszination dieser Region einfängt, mit glaubwürdigen Charakteren und mit einer fesselnden Familiengeschichte.
„ Rückkehr nach St. Malo“ ist allerdings ein Roman, für den man einen langen Atem braucht, nichts für ungeduldige Leser. Doch wer sich auf das ruhige Erzähltempo einlässt und sich von den vielen Details nicht abschrecken lässt, wird belohnt mit einer atmosphärisch dichten Geschichte, die einen immer stärkeren Sog entwickelt.