Psychologisch tiefgreifende Familiengeschichte

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REZENSION – Nach ihrem Bestseller „Der Duft des Waldes“ (2018) und „Schwindel“ (2022) bleibt die französische Schriftstellerin Hélène Gestern (54) auch in ihrem dritten ins Deutsche übersetzten Roman „Rückkehr nach St. Malo“, im August beim Kindler Verlag erschienen, ihrem Thema treu. Wieder geht es um die Erbschaft eines alten Hauses, um die Aufarbeitung einer vielschichtigen Familiengeschichte und um die Selbstfindung der sich in einer Lebenskrise befindenden Hauptfigur.

Diesmal ist es der Historiker Yann de Kérambrun, der sich nach Trennung von seiner Ehefrau und dem Tod seines Vaters eine einjährige Auszeit von seiner Professur an der Pariser Sorbonne nimmt und in das leerstehende Elternhaus an der bretonischen Küste in St. Malo zieht. Dies hatte vor hundert Jahren sein Urgroßvater Octave, seit 1903 ein erfolgreicher Reeder und Inhaber eines florierenden Schiffsausrüstungsunternehmens sowie fürsorglicher Familienvater und liebender Ehemann, als Familiensitz bauen lassen. Da Yann kein Interesse am Familienbetrieb hatte, sein Vater ihn auch nicht für die Unternehmensführung geeignet hielt, hatte dieser die Firma nach dem allzu frühen Tod von Yanns Zwillingsbruder bereits an ihre Cousine vererbt. Doch ausgerechnet Yann, der sich stets dem Traditionsunternehmen verweigert und sich wegen seines schwierigen Verhältnisses zum eigenen Vater nicht sonderlich für die Familie interessiert hatte, ist es nun, der im alten Haus auf ein umfangreiches Firmen- und Familienarchiv aus unzähligen Dokumenten, Briefen, Rechnungen und Tagebucheinträgen stößt. Als professioneller Historiker lässt er sich beim Sichten dieser Unterlagen mehr und mehr von seiner Familiengeschichte einfangen. Schließlich kommt er sogar einem über Generationen streng gehüteten Familiengeheimnis auf die Spur, bei dem die der Hafenstadt St. Malo vorgelagerte Insel Cézembre eine immer mystischere Rolle einnimmt.

„Rückkehr nach St. Malo“ ist eine vor interessantem historischen Hintergrund geschriebene Familiengeschichte über vier Generationen, die sich auf verschiedenen Zeitebenen abspielt: Mit Hilfe der aufgefundenen Firmen- und Familienunterlagen sowie in die Handlung eingestreuter episodenhafter Rückblenden tauchen wir tief in die Gründungsgeschichte des Familienunternehmens ein und lernen nach und nach die Mitglieder vergangener Kérambrun-Generationen sowie deren Verhältnis untereinander kennen. Zugleich erleben wir in der Gegenwart, wie Yann dank seiner Familienforschung seine Fehlurteile gegenüber seinem Vater korrigieren und zunehmend Verständnis für dessen oft schroffes Verhalten entwickelt.

Der Roman ist psychologisch tiefgreifend, emotional gehaltvoll und fasziniert mit steigender Seitenzahl durch unterschwellig wachsende Spannung: Jedes von Yann neu aufgefundene Dokument fördert neue Fragen zutage, deren Beantwortung das Bild seiner Vorfahren nach und nach deutlicher werden lässt. Doch „Rückkehr nach St. Malo“ ist keine schlichte Familiensaga. Es ist eine Rückkehr zu Yanns Wurzeln, seine Rückkehr in die noble Familie de Kérambrun, deren Erben über hundert Jahre in dem Zwang leben mussten, das vom Urgroßvater einst geprägte Bild auf alle Zeit nach außen bewahren zu müssen.

Yanns Rückkehr nach St. Malo gibt ihm die Möglichkeit zur Versöhnung mit seinen Vorfahren, mit seinem verstorbenen Vater – und letztlich auch mit sich selbst. Er erkennt, dass hinter der äußeren Fassade seiner Familie auch tiefe Verletzungen und intime Geheimnisse verborgen waren. Dieses Wissen zeigt Yann den Weg zur Selbstfindung und öffnet ihm das Tor zu einem neuen Lebensabschmnitt. Fragt man sich als Leser anfangs vielleicht noch, wohin die Autorin uns eigentlich führen will, wird dies von Kapitel zu Kapitel immer offensichtlicher, die Handlung nimmt an Spannung zu und gegen deren Ende wird aus dem Roman sogar ein Krimi.